Hochverehrter Herr Doktor!
Die liebenswürdige Über
sendung Ihres
Werkes hat mir die größte Freude bereitet, nicht nur die an
Ihrem
Werke selb
st,
sondern auch durch die Erkenntnis, daß Sie,
den ich von allen lebenden deut
schen Dichtern am höch
sten
schätze, meine kleine und
nun im Akten
staub
schon ganz und gar vertrocknete Exi
stenz noch nicht ganz verge
ssen
haben. Ich weiß al
so gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.
Ich habe Ihr
Werk,
sobald ich
nach Überwindung eines aufgetürmten Ak
|tenbergs zu ihm gelangen konnte, mit Eifer und Lu
st
studiert (nicht bloß gele
sen)
und möchte, wenn Sie es ge
statten, einige Bemerkungen, die
sich mir aufdrängten, kurz
skizzieren.
Der von Ihnen unternommene Ver
such, die alten
theophrastisch-
La-Bruyèreschen Bemühungen von einem höheren Ge
sichtspunkte aus wiederaufzunehmen und in
das Wirr
sal der uns umdrängenden (und
schließlich auch in uns
selb
st hau
senden)
men
schlichen Charaktere durch Auszeichnung und vergleichende Gegenüber
stellung von
Urtypen reinliche Ordnung zu bringen, den Be
stand gewi
sser Gei
stesverfa
ssungen,
ge
sondert von Begabung und Seelenzu
ständen hervorzuheben und dadurch der
Charakteri
sierung von Einzelindividuen die
sichere Grundlage des fe
st
stehenden
Vergleichstypus
|zu
schaffen, i
st
ungeheuer intere
ssant und, wie ich meine, wertvoll; er
scheint mir geeignet, eine
noch fehlende Disziplin der Charakterologie einzuleiten, und ich bin
sicher, daß
nunmehr, da Sie den Weg gezeigt haben, das Volk der philo
sophi
schen Kärrner, an dem
kein Land
so reich i
st wie
Deutschland, mit
Schotterzufuhren und bequemer Ausharkung, mit Anlage von Abzugsgräben und
seitlicher
Ra
senverbrämung nicht kargen wird. Es bedarf oft nur des Manife
stes
↓(aber es bedarf seiner)↓ eines großen Gei
stes, damit eine ganze große Welt ent
stehe. Mir kommen hiebei
die wenigen Seiten des kommuni
sti
schen in den Sinn und
auf die neue Art von Ge
schichtswi
ssen
schaft, die
sich über ihnen aufgebaut
hat.
Wenn ich, der Skeptiker, einen
|kriti
sierenden Kärrnerbeitrag liefern darf,
so würde er der »
ideellen unüberschreitbaren
Grenzlinie« gelten, die Ihre Diagramme zwi
schen den po
sitiven und negativen Typen
ziehen. Es i
st mir klar, daß die Urtypen nicht empiri
sch kon
statierte
Haupter
scheinungsformen men
schlicher Gei
stesverfa
ssungen
sind,
sondern Ab
straktionen
be
stimmter derartiger Ge
staltungen (
nicht eine Erfahrung, sondern eine
Idee, um ein
bekanntes Wort zu zitieren). Lägen empiri
sch gefundene Haupttypen vor, dann wäre es
ohne weiteres evident, daß eine
strikte Scheidewand zwi
schen ihnen nicht errichtet
werden könnte: da die unendliche Mannigfaltigkeit der wirklich gegebenen Charaktere
die Gewißheit gäbe, daß es zwi
schen allen
solchen Typen, die nur als Grenztypen
gelten
|könnten, Übergangsformen in
ununterbrochener Reihe geben mü
sse. Aber auch bei Auf
stellung von Urtypen als Ideen
(Gebilden des Sollens, nicht des Seins, wie
Kelssen sagen möchte) handelt es
sich nicht um
kontradiktori
sche,
sondern um konträre Gegen
sätze, die die Möglichkeit einer
unendlichen Reihe
sie verbindender Varietäten nicht aus
schlö
ssen. Auch die Urtypen
als Ideen
sind Grenztypen.
Sie bezeichnen zwar die Typen der oberen Vierecke als die po
sitiven, die der unteren
als die negativen, und po
sitiv
e–negativ oder plus und
minus (
S. 9)
sind allerdings
kontradiktori
sche Gegen
sätze: nicht aber werden es die Typen durch die
se
Bezeichnung.
Zu demselben Ergebnis kommt |man, wenn man
auf die Grundidee zurückgeht, die der Unterscheidung der Seite »Gottes« und der Seite
»des Teufels« zugrundeliegt (welche poetischen Termini, wie ich besorge, in Menschen
das Mißverständnis erwecken können, es sei auf eine Distinktion im Sinne christlicher
Moral abgezielt). Sie liegt wohl darin, daß den einen das Werk Zweck, den andern
Mittel zum Zweck ist, woran sich der Gegensatz zwischen Idealismus (im landläufigen
Sinne) und realistischer Lebenseinstellung und zwischen Altruismus und Egoismus
anschließt (obwohl man vielleicht sagen könnte, es sei ein Egoismus im höchsten
Sinne, wenn der Positive nur für sein Werk lebe, da es dem Schöpfer nur eine andere
Form seines Ich sei). |Alle diese
Gegensätze nun sind konträre, und daraus folgt, daß die auf ihrer Basis einander
gegenübergestellten Typen ebenfalls einander konträr gegenüberstehen, das heißt
Endglieder von Reihen sind, deren Elemente mit↓in↓ unendlich kleinen Unterschieden sich steigernd gedacht werden können. –
Ich muß es, um Ihre Geduld nicht zu erschöpfen, an bei diesen Anmerkungen bewenden lassen: obwohl ich Lust hätte, noch so Manches
festzuhalten, was mir bei der Durchstudierung Ihres Werks – eines der anregendsten,
die ich kenne – an klugen und unklugen Gedanken gekommen ist.
Nehmen Sie nochmals, hochverehrter Herr Doktor, meinen besten |Dank!
Mit vielen Empfehlungen Ihr
ergebener
DrRAdam