Arthur Schnitzler an Gerhart Hauptmann, 17. 3. 1922

|Versuche ich, mein lieber und verehrter Gerhart Hauptmann, während ich mich in Gedanken mit Ihrem bevorstehenden Geburtstage beschäftige, mir die einzelnen Momente unserer Bekanntschaft oder, wenn ich mich kühner ausdrücken soll, die Geschichte unserer Beziehungen zu vergegenwärtigen, so wundere ich mich selbst, wie spärlich an Zahl und wie kurz gemessen die persönlichen Begegnungen sind, die ich in meinem Gedächtnis verzeichnet finde. Ich denke des Abends bei Brahm im Jahre 1896, an dem ich Sie kennenlernte —, eines Spazierganges in der Semmeringer Landschaft im Winter 1899, der grauverhängten, doch warmdurchleuchteten Spätoktobertage 1902 in Ihrem Agnetendorf, des traurigen Novembertages 1912, an dem wir unserem dahingeschiedenen wunderbaren Freunde in einer dämmerigen Halle Abschiedsworte in den Sarg nachriefen –, und endlich einer letzten, vorläufig letzten harmlosen, doch nicht unbeschwingten Unterhaltung in Wien. Wenn ich so, mit anderen mehr oder minder flüchtigen Begegnungen alle Stunden zusammenrechne, in denen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, so kommt gewiß keine ganze Woche heraus. Wie erkläre ich’s mir nur, daß mir heute trotzdem zumute ist, als richtete ich diese Worte nicht nur an den weltberühmten Dichter, sondern als dürfte ich zugleich zu einem Freunde sprechen, zu einem lieben alten Freunde, der mir das von Jahr zu Jahr in höherem Maße wurde – ohne sein oder mein Dazutun, einfach durch die Tatsache seines Daseins und Wirkens? Da ich mich von aufdringlichen Neigungen ziemlich frei weiß, so ist dieses Gefühl zum Teil gewiß darin begründet, daß Künstler Ihrer hohen und reinen Art, je entschiedener sie der Welt gehören, eine immer wärmere Atmosphäre der Menschlichkeit und Beglückung um sich verbreiten, an der jeder Empfängliche, jeder Dankbare teilnehmen darf. Da aber nicht alle diese Dankbar-Empfänglichen schon darum allein das Recht für sich in Anspruch nehmen dürften, einen Mann wie Sie mit dem stolzen Worte Freund zu grüßen, so wage ich es, meine wirkliche oder eingebildete Berechtigung dazu aus der Empfindung herzuleiten, daß mir aus Ihrem Wesen, abgesehen von jenem allgemein-zugänglichen Glanze, etwas entgegenstrahlt, das in irgendeiner Weise mir ganz persönlich gilt – vielleicht als einem, der ungefähr gleichaltrig mit Ihnen, dem gleichen Berufe hingegeben, nun seit so langer Zeit in bescheidener Nachbarschaft seine Straße zieht und dessen innige Bewunderung für Sie und Ihr Werk im Laufe dieser Jahre nicht nur ihm selbst, sondern auch Ihnen immer stärker bewußt wurde. Wenn der geheimnisvolle Satz von den Parallelen, die sich erst in der Unendlichkeit begegnen, auch für Menschenwege zutrifft, die in der gleichen Ebene laufen, so mag er für Dichterwege ganz besonders gelten, – und je mehr wir abendwärts wandeln, jener Unendlichkeit zu, die uns einmal alle umfangen wird, um so mehr scheinen für unser sterbliches Auge sich diese Wege einander zu nähern und um so vertrauter klingen Rufe aller Art zwischen den Wanderern hin und her. Wenn Sie heute, Gerhart Hauptmann, aus den meinen herausgehört haben, was Sie und Ihre Kunft mir bedeuten, so will ich zufrieden sein und Ihnen nicht erst ausdrücklich und ausführlich sagen, welche Wünsche ich Ihnen, mir und uns allen aus erfüllter Seele darbringe.
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