Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 5. 1. 1922

|Kopenhagen 5 Januar 22

Verehrter lieber Freund

Es war mir eine Freude, von Ihnen zu hören, eine noch grössere, dass Sie jenes schon alte Buch, das ich seit 1915 nie wieder angesehen habe, mit Befriedigung gelesen. Welcher Fluch für mich, eine Sprache zu schreiben, die Niemand versteht. Ich möchte Ihnen so gern die späteren Bücher, Voltaire, Cäsar, Michelangelo zugeschickt haben. Auch was ich in der letzten Zeit über Homer geschrieben.
Ich weiss nicht, ob Ihre Zeitungen davon gesprochen, dass (weil es am 3. November 50 Jahre her war, dass ich meine ersten Vorträge an der Kopenhagener Universität hielt) hier grosse Feier waren, Fackelzug der Studenten |und anderes. Es würde mich vor 40 Jahren sehr erfreut haben.
Am 15. Januar soll ich vor der Aufführung von Tartufe von der Bühne des Dagmar-Teaters über Molière reden. Am 19 wieder an die russischen Schauspieler französisch reden.
Dann verschwinde ich Ende dieses Monats für einige Zeit. Ich will mich wahrlich nicht zu meinem 80 Geburtstag Glück wünschen lassen. Die Lächerlichkeit wäre zu gross.
Ich las hier einmal im Herbst in einer Zeitung ein Interview eines mir unbekannten dänischen Journalisten mit Ihnen, worin Sie sehr freundliche Worte über mich sagten, ich glaube die freundlichsten, die in jenem Blatte je über mich gestanden haben.
Ich bleibe Ihnen immer verpflichtet und |verbunden. Der Genuss, den ich durch das Lesen Ihrer Werke gehabt habe, ist hundert Mal grösser als das mögliche Vergnügen, das Sie durch meine nur belehrenden Bücher gehabt haben können.
Ich sah durch dies Interview, wie viel Unannehmlichkeiten Sie durch das alte, nur scherzhafte und witzige, Reigen gehabt haben. Der jetzt überall glühende Antisemitismus und die Tugendbolderei geben im Verein solche Resultate. Als ob die Menschen durch die Umstände dieser Zeit nicht genug litten, gehen sie mit zehnfachem Eifer darauf los, sich gegenseitig das Leben noch saurer zu machen.
Ich habe immer Wien in meinen Gedanken, immer mit Mitleid, Trauer und Dankbarkeit. Können Sie verstehen, das unser Freund Beer-Hofmann sich |mit solcher Leidenschaft an das Judenthum krampft. Es hat mich im Grunde nie interessiert; nur wenn die Juden verfolgt wurden, und wenn sie es werden, habe ich für sie heisses Mitgefühl, wie für alle ungerecht unterdrückten. Ich kenne nicht einen einzigen hebräischen Buchstaben. – Es scheint mir auch von ihm so gewollt.
Ich denke mir, Sie haben sich in den späteren Jahren mit Casanova beschäftigt, am meisten um sich nicht mit dem Gegenwärtigen herumzuschlagen. Wenn der Einzelne seine Ohnmacht fühlt, nützt es ja nichts mitzureden. Deshalb schweige ich selbst, wo ich viel zu sagen hätte. Ich habe nicht Frithiof Nansens praktische Begabung so wenig wie sein Ansehen. Er ist durch den Krieg sehr gewachsen.
Ich bitte Sie Ihrer Frau Gemahlin meine Huldigung, Ihren Kindern meine Sympathie zu überbringen.
Ihr Freund
Georg Brandes
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