Arthur Schnitzler an Georg Brandes, 28. 12. 1921

|Wien 28. 12. 21
lieber und verehrter Freund, für die Freude, die Sie mir durch die Übersendung Ihres Goethe-Buchs bereitet haben, sag ich Ihnen innigsten Dank. Ich lese es mit dem größten Genuß – ich habe fast alle andre Lectüre unterbrochen, da mein Antheil wie an dem Gegenstand so an dem Verfasser mit jedem Absatz aufs neue angeregt und entzündet wird. Welche Klarheit, Einfachheit, Lebendigkeit in der Behandlung jedes einzelnen Werkes und dieses ganzen unvergleichlich reichen Daseins. Wenn ich nach einem Vergleich suche, kann ich wieder nur auf ein andres Buch von Ihnen zurückgreifen: auf Ihren Shakespeare. Wie viel Altersreife war schon in dem früheren Buch, – wie viel Jugendfrische ist in diesem neuen. Welchen Glanz breiten Sie über die Oberflächen; in welche Tiefen dringen Sie, ohne jemals dunkel zu werden. |Kritische Betrachtung, historischer Bericht, culturgeschichtliches Erfassen ergänzen sich, fließen zusammen, und das Ganze einer genialen Persönlichkeit steht wohlbekannt und doch von einer leichten und starken Hand neu erschaffen, in scharfen und hellen Linien da. Überall Goethe wie er war, – und überall auch Brandes wie er ist – und noch lange bleiben möge! Dies mein Gruß, lieber und hochverehrter Freund, und mein Wunsch zum neuen Jahre. – In Bewunderung und Treue
Ihr
Arthur Schnitzler
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