|Wien, am
2. Dezember 1918
Hochverehrter Herr Doktor!
Verzeihen Sie es meiner bangen Ungeduld, daß ich, obwohl nicht viel mehr als zwei
Wochen ver
strichen
sind,
seit ich dem
Deutschen
Volkstheater meine zwei
Stücke überreichte, bei Ihnen anfrage, ob Ihnen von dem
Schick
sal, das ihrer harrt,
schon etwas bekannt geworden i
st? Ich bin ohne jede
Nachricht und weiß nicht recht, ob ich wieder im
Theater vor
sprechen
soll und an wen ich mich am be
sten
wenden
sollte; ich be
sorge, mir durch Zudringlichkeit und Zur
schautragen von Ungeduld
Chancen, die ich etwa hätte, zu verderben, ander
seits aber wieder,
stilles Zuwarten
möchte auch nicht das
|richtige Vorgehen
sein. Könnten Sie mir, bitte, hierin einen Rat geben?
Mir hilft jetzt über viele Unannehmlichkeiten der
deutschösterreichischen Epoche – Amtsarbeit, Verkühlung, Fett- und
Flei
schhunger, kühle Zimmer – die Lektüre eines wundervollen Buches hinweg, das ich
neulich in der
Bibliothek der Justizbeamten
auf
stöberte und das mir bis jetzt vollkommen unbekannt war (obwohl es in den
80er Jahren einiges Auf
sehen erregt
haben muß). Es heißt: »
Briefe eines Unbekannten«
und wurde von dem Grafen
Rudolf Hoyos bei
Gerold in
Wien herausgegeben,
1887 in zweiter Auflage. Der Brief
schreiber
war ein Herr
von Villers, pen
sionierter
sächsischer Legationsrat,
ein Mann von höch
ster Kultur. Wie konnte es kommen, daß ich von die
sem Buch nie etwas
las oder hörte? Es gehört, will mich dünken, nicht nur zu den vornehm
sten,
sondern zu
den gei
stvoll
sten und liebenswürdig
sten Büchern der deut
schen
|Literatur. Ich muß mich zurückhalten,
Ihnen nicht Stücke auszu
schreiben, um Ihnen davon – falls Sie die
se Briefe nicht
ohnehin kennen
sollten – Proben zu geben; aber vielleicht kennen Sie, was ich
entdeckt oder wiederentdeckt zu haben glaubte, ohnehin und meine Begei
sterung
scheint
Ihnen zwar nicht lächerlich – denn ich glaube kaum, daß ein für Literatur
Empfänglicher die
sen Briefen gegenüber kalt bleiben könnte –, aber doch unnütz. –
Zu schriftstellerischer Betätigung komme ich jetzt gar nicht; mir ist, als müßte ich
alle mir nach viereinhalb Kriegsjahren verbliebene Energie dazu aufbrauchen, nicht
allzusehr zu frieren, und als bliebe für’s Denken keine mehr übrig.
Mit den ergebensten Grüßen
Ihr
DrRAdam