Thomas Mann an Arthur Schnitzler, 22. 5. 1913

|BAD TÖLZ, DEN 22. Mai 1913.

Verehrter Herr Doctor:

Ihre wundervolle Sommergeschichte, von der mir ein Exemplar in Ihrem gütigen Auftrage zugesandt wurde, habe ich gestern Abend in großer Bewegung beendigt. Sie wird mich noch lange festhalten und beschäftigen. Die heutige Kunst versteht sich ja im Ganzen nicht schlecht auf »Stimmung«; aber einen Fall, wo Stimmung sich dermaßen unerbittlich, fürchterlich, verhängnishaft verdichtet, wie hier bei Ihnen, – den gibt es, glaube ich, auch heute |nicht zum zweiten Mal. Ich werde nicht müde, auch bei geschlossenem Buche die Dichtigkeit und magische Unzerreißbarkeit dieses erotischen Kunst- und Schicksalsgespinstes zu prüfen und zu bewundern und bitte Ihnen meinen tiefen Respekt ausdrücken zu dürfen vor Ihrer großen Zaubermacht. Der Schluß geht mir beständig nach. Trotz feinster, vielfältigster Vorbereitung – ist er möglich so oder ist er es nicht? Auf jeden Fall ist er überwältigend schön.
Ich habe die Überraschung, zu sehen, daß mein »Tod in Venedig«, bei dessen Herstellung ich |auf garnichts hoffte, sehr warm aufgenommen wird. Bis auf einen giftigen Angriff des Herrn Kerr, hinter dessen tänzerischem Pamphletchen gegen mich sich freilich viel Charakter-Elend verbirgt, habe ich fast nur sehr Ehrenvolles darüber gehört. Und daß die erste Beruhigung vom Autor der »Frau Beate« kam, darüber bin ich nun wieder besonders glücklich.
Mit den besten Empfehlungen an Sie und Ihre Gattin, verehrter Herr Doctor,
Ihr ergebenster
 Thomas Mann.
    Bildrechte © University Library, Cambridge