Thomas Mann an Arthur Schnitzler, 25. 9. 1911

|Bad Tölz, den 25. IX. 1911.

Sehr verehrter Herr Doctor:

Durch meinen Bruder, der zur Zeit bei uns wohnt, erfahre ich von dem Hinscheiden Ihrer Mutter und möchte Sie bitten, den Ausdruck auch meiner herzlichen Teilnahme freundlichst entgegenzunehmen.
Ich las mit großer Bewunderung Ihre so wunderbar gehobene Dichtung in der »Rundschau« und erwarte mit freudiger Ungeduld die Münchner |Erstaufführung Ihres neuen Stückes. Meinen Bruder sehe ich schwer verstimmt – und bin es mit ihm – über das Fehlschlagen der Hoffnungen, die er auf sein Drama gesetzt hatte. Ich habe es erst jetzt hier in der Korrektur gelesen und muß zum Mindesten die Energie bewundern, mit der ein an weit ausladender Breite gewöhnter Romancier so viel Leidenschaft und Schicksal in ein paar knappe Dialoge zusammenzupressen vermochte. Gewiß, die Theaterdirektoren thun |höchst Unrecht, das Stück zurückzuweisen! Es mag sein, daß die beiden späteren Akte gegen den ersten an Bühnenwirksamkeit zurückstehen, aber dichterisch genommen bringen sie die eindringlichsten Dinge, und die schönsten Repliken sind in ihnen enthalten. Und ist es nicht schließlich so, daß eine dramatische Arbeit dieses Autors ohne Weiteres aufgeführt werden müßte? Wäre das nicht eine selbstverständliche Aufmerksamkeit des Theaters gegen den Dichter der »Kleinen Stadt«? Entfällt da|bei für die Direktoren nicht jede künstlerische Verantwortung? Hoffentlich erkennt nun wenigstens Frau Durieux in Berlin in der Leonie eine gute Rolle.
Mit den besten Empfehlungen an Sie und Ihre Gattin,
sehr verehrter Herr Doctor,
Ihr ergebenster
Thomas Mann.
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