Arthur Schnitzler an Georg Brandes, 19. 1. 1911

Verehrter Herr Brandes,

mit Ihrem Brief über den Medardus hab ich mich sehr gefreut. Der Erfolg hier dauert an; das Burgtheater hatte seit Jahren nicht eine solche Reihe von ausverkauften Häusern; übrigens ist es eine vortreffliche Aufführung, und es wäre mir eine wirkliche Genugthuung wenn Sie sie einmal sehen könnten. Natürlich ist unendlich viel gestrichen; darunter Scenen von bedeutender Wichtigkeit – und ich selbst war der Streicher; von der alten Theatererfahrung ausgehend, daß das Publikum gegen Längen empfindlicher ist als gegen Lücken. Ich hatte das Stück geschrieben, ohne die Eventualität einer Aufführung überhaupt in Betracht zu ziehen, ließ meine Phantasie und meine Feder laufen, wie es ihnen beliebte, |hatte aber natürlich immer die lebendigen Bühnenbilder vor mir, ohne recht zu glauben, daß es mir vergönnt sein würde, sie je in Wirklichkeit zu erblicken. Schon Schlenther nahm das Stück an, konnte sich aber, in bekannter Weise nicht entschliessen, seine Absicht zur That zu machen; erst dem Baron Berger verdankt das Stück sein Erwachen zum Bühnenleben. Seither ist schon manches andre fertig geworden und Sie, verehrter Freund, der allen meinen Arbeiten mit so wohlthuendem Interesse entgegenkommt, werden natürlich auch in den neuen und neuesten Fällen die Consequenzen zu tragen haben. –
Denken Sie nicht dran, nach langer Zeit endlich wieder nach Wien zu kommen? Wie gern möchte ich mit Ihnen reden, Sie in meinem Hause begrüßen – »Mein Haus« sag ich, denn im vergangenen |Sommer hab ich von Frau Bleibtreu, der Wittwe des Schauspielers Römpler – (sie spielt die Frau Klaehr im Medardus), eine kleine Villa im Cottage gekauft die ich mit Frau und Kindern – (den Buben, der jetzt 8 Jahre ist, kennen Sie von Marienlyst her, das Mädchen ist kaum anderthalb Jahre alt) bewohne.
So darf ich mich mancher inneren wie äußeren Erfolge erfreuen, und empfinde das viele Gute, das mir vom Schicksal beschieden, zuweilen so stark, daß ich jenes stetig fortschreitende Ohrenleiden, von dem ich seit 15 Jahren geplagt bin, gern als einen Polykratesring ansehen möchte – wenn  auch als einen allzu werthvollen – und jedenfalls als einen, den kein Fischer der Welt mir jemals zurückbringen wird. –
|Beer Hofmann mit seiner Frau und seinen drei Kindern wohnt ganz nahe von mir, in einem sehr schönen Haus, das ihm der Architekt Josef Hoffmann gebaut hat, und arbeitet nicht so viel, als er seinem Talent nach verpflichtet oder verurtheilt wäre. Sie sollten wieder einmal herkommen, – womöglich im Mai – man könnte einander so vieles erzählen; – in einer Stunde etwa zehn Mal so viel, als in zwei Briefen steht; das beste, was man von Menschen hat, die einem werth sind, bleiben doch die zwanglosen Unterhaltungen, die von der ganzen Atmosphäre der Persönlichkeit umgeben sind – was ist dagegen die gewollte Condensation und Praecision eines noch so herzlich intendirten Schreibens? |In Briefen will man was bestimmtes sagen; – man dankt, man berichtet – man bezweckt; – in Gesprächen läßt man sich und den andern viel reiner leben, – man mag mit hundert Geheimnissen voneinander scheiden; – die Stimme, der Tonfall, die Geste geben selbst Befangenheiten, ja Unaufrichtigkeiten (die zwischen uns nicht zu befürchten sind) jene beste und einzige Wahrheit, an der wir uns erlaben dürfen: Gegenwart.
Dies soll Sie natürlich nur bestimmen (o welche Kraft traue ich schiefen Aphorismen zu!) nach Wien zu reisen – aber Sie ja nicht abhalten, mich bald wieder durch ein paar geschriebene Worte zu erfreuen. In herzlicher Verehrung
Ihr
Arthur Schnitzler
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