Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 18. 12. 1910

|Kopenhagen
18. 12. 10

Verehrter Freund

Wenn ich Sie lese, thut es mir leid, dass ich so weit von Ihnen wohne und so selten Gelegenheit habe, mit Ihnen einige Worte zu wechseln.
Medardus habe ich sehr genau gelesen, laut vorgelesen, um es recht zu würdigen. Sie haben dort ein reiches Bild aufgerollt. Mit Ueberraschung und Freude erfuhr ich aus einer Zeitungsnotits, dass das Stück trotz seiner epischen Anlage erfolgreich aufgeführt worden ist. Die – im Goetheschen Sinn über Kleist fesselnde »Verwirrung des Gefühls« in Medardus ist so recht Ihre Domäne. |Sehr fein ist die schwache Andeutung einer geistigen Verwandtschaft zwischen Helene und Napoleon.
Die ganze Wieneratmosphäre vor 100 Jahren haben Sie geben wollen. Und wenn ich nicht irre, lag es Ihnen besonders am Herzen, zu zeigen, auf welchem Hintergrund von Spiessbürgerlichkeit und lässiger Frivolität, die in Wien zu Hause waren, und auf welchem Hintergrund von unnationalem Wesen und Gehorsam dem Eroberer gegenüber, die in Deutschland hervortraten, der Heroismus einiger Weniger sich geltend machte. Eine nachsichtige Menschenverachtung durchdringt das Schaupiel und findet u. a. in mir ein Echo.
Ich möchte immer gerne wissen, wie es |Ihnen geht und wie es Beer-Hofmann geht, den ich (vor 16 Jahren, glaube ich) mit Ihnen kennen lernte.
Ueber mich selbst ist nichts Interessantes, wenigstens nichts besonders Gutes zu melden. Ich bin nicht krank.
Haben Sie für die Treue Dank, womit Sie bei jeder neuen Arbeit auch an mich denken.
Ich bin Ihr unveränderlicher Freund
Georg Brandes
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