Ich habe jeden Tag zu Dir kommen wollen, nie wars möglich, nun muss ich morgen wieder
auf Vorlesungen fort, bis zum 5. Dezember.
Lass mich Dir also kurz schreiben, was ich Dir lieber ausführlich gesagt hätte: warum
ich nämlich den Gedanken aufgegeben habe, über Dein
Stück im
Neuen Wr Journal, unabhängig von der ersten Aufführung,
bei der ich ja leider nicht sein kann, zu sprechen.
Ich habs in
London gleich gelesen, und
|dann hier noch einmal. Beide Male war der Eindruck
der selbe. Ich habe mich sehr stark für den
Medardus selbst interessiert, der mir, kein halber, sondern
ein sechzehntelheld, eben darin ein vollkommenes Exempel des
Wieners zu sein scheint. Wie es aussieht, wenn ein
Wiener zur tragischen Figur wird, das finde ich
an diesem Fall wunderbar dargestellt. Allerdings ist das Missverständnis möglich,
der
Autor habe selbst einen tragischen Helden zeichnen wollen. Ich glaube das nicht und
werde darin durch die Schilderung der anderen
Wiener im Stück bekräftigt. Diese Schilderung hat freilich erst dann auf
mich gewirkt, als ich mir die Mühe nahm,
|das
Stück im Geiste sozusagen zu
inszenieren und es mir Szene für Szene auf der Bühne vorzustellen. Ich rechne ihm
das
als einen Vorzug an, es ist ein durchaus bühnenmässiges
Stück, das dargestellt noch ganz anders
wirken muss als aus dem Buch. Wenn es nämlich wirklich dargestellt wird, wenn es
bühnenmässig gelöst wird! Und da kam nun, als ich die Besetzung las, meine
Hauptsorge. Ich würde herzlich wünschen, dass ich mich völlig irre. Wie ich aber
diese Herrschaften, die jetzt im
Burgtheater
herumdillettieren, und die dortigen hilflosen Inszenierungen kenne, muss ich
fürchten, dass sie aus Deinem
Stück eine Karikatur machen
|werden. Wäre
ich nun selbst bei der Première, so könnte ich schreiben: Das was ihr gestern gesehen
habt, war gar nicht
Schnitzlers
Stück, sondern sein Stück ist vielmehr so und so! Da ich selbst nicht dabei
bin, könnte ich nur schreiben: Das
Stück ist so und so! Aber die Leute, die das lesen würden, werden, fürchte
ich, ein ganz anderes Stück gesehen haben. Ich würde über den
Medardus schreiben, sie aber werden den
Herrn
Gerasch sehen und ich fürchte, dass
zwischen diesen beiden Personen jede Ähnlichkeit ausgeschlossen ist. Zum Schluss wäre
wahrscheinlich der arme Herr Kollege, der die Notiz über die Darstellung und die
Aufnahme schreiben müsste, völlig ratlos und würde noch gegen mich polemisieren
|müssen. Ich sehe nur Unannehmlichkeiten für Dich
und für mich und für alle Beteiligten. Ich hoffe, Du nimmst das so, wie es gemeint
ist, und verstehst es.
Grüsse Deine liebe
Frau
herzlichst und sei selbst herzlichst von
uns beiden gegrüsst!
Dein
alter
[handschriftlich Hermann Bahr:] Hermann