Eduard Michael Kafka an Arthur Schnitzler, 12. 1. 1893

|12/1 93.

Lieber Freund,

vorgestern – bei einer Soiree des Rechtsanwalts Dr Grelling in Berlin – wurde Ihre »Frage an das Schicksal« aufgeführt. Reicher brillirte als Anatol – ich kann Ihnen nicht schildern, wie vorzüglich er war: einfach ganz einzig, der Anatol par excellence. – Es hat mich ungemein gefreut, dass ich der Aufführung Ihres Stückes – in so meisterlicher Darstellung – habe persönlich beiwohnen können. Es waren mehr |als 100 Personen anwesend; die hervorragendsten literarischen u künstlerischen Kreise waren vertreten: von Sudermann bis Träger. Sudermanninsonderheit war ganz entzückt u. wurde nicht müde, seinen Beifall in der allerlebhaftesten Weise, durch beständige Zwischenrufe aufrichtiger Bewunderung, Ausdruck zu geben.
Reicher läßt Sie grüßen. Er bat mich Ihnen zugleich mitzuteilen, dass Blumenthal bezüglich der Aufführung des »Märchen« darauf |hinweist, dass Sie ihm seinerzeit gesagt hätten, das Stück werde in Prag gegeben werden. Er möchte erst diese Aufführung abwarten, – Sie sollen daher zusehen, dass Sie die Prager Première beschleunigen. – Notabene, Lieber Freund, – dieses Berlin ist eine herrliche Stadt: ich fühle mich hier, obwol ich erst einige Tage da bin, so heimisch, als wäre |ich dort geboren. Wir wissen in Wien nicht, was geistiges u künstlerisches Leben bedeutet: man muss hieher kommen, wenn man dies erfahren will.
Raten Sie, bitte, schleunigst allen unseren lieben Freunden: Sie sollen ohne Zaudern, ohne eine Minute zu verlieren, ihr Bündel packen und nach Berlin kommen – Alle, – es ist hier Boden genug für sie u. in Wien werden sie ja doch alle verkümmern!
Herzlichst Ihr
 EMKafka
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