Felix Salten an Arthur Schnitzler, 22. 10. 1911

|Felix Salten Wien, 22. X. 11
Lieber, in einer sehr angenehmen Weise ergibt es sich mir aus Ihrem Brief, für den ich Ihen bestens danke, dass Discussionen dieser Art zwischen uns durch keinen anderen Zusatz in ihrer Sachlichkeit entfärbt werden. Aus Ihrem Brief glaube ich ein gewisses Vertrauen in mein Verhältnis zu Ihren Arbeiten folgern zu dürfen, und das überhebt mich, Ihnen erst noch zu sagen, wie groß mein Respect und meine Zuneigung für jede produktive Arbeit im Allgemeinen und für die Ihrige im besonderen ist. Ohne weiters gebe ich Ihnen denn auch die Möglichkeit zu, dass Sie in allen Teilen recht haben. Doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie meine Einwände anders auslegen, als ist sie gemeint habe, und möchte deshalb noch ein Wort darüber sagen. Zunächst, dass jenes Missverständnis in meinem Lloyd-Feuilleton garnicht besteht. Dort schrieb ich ja, dassHofreiter nicht bei dem Kinde bleiben, nicht im Vaterschaftsgefühl auslaufen könne. Ich hab das natürlich begriffen, und brauchte das »auf nach Amerika!« umso weniger, als ja auch diese Reise zweifelhaft und im Grunde unwesentlich wäre. Im Lloyd steht das auch garnicht wie Sie annehmen, als ein Gedanke von mir gegen eine (von mir missverstandene) Absicht von Ihnen. Vielmehr: dass dieser Kinder-Ruf ebenso wie die Antwort, die ihm wird, mir in ihrer »Anwendung« nicht überzeugend scheine. Wenn das Kind »Vater« ruft, der Vater »ich komme« antwortet, und diese beiden Akzente den Ausklang des Stückes geben, mit ihrer inneren und in der Sekunde unwidersprechlich wirkenden Bedeutung den Ausklang des Stückes bestimmen, dann wird ein Anschein geweckt, meinte ich, ein Ausblick geöffnet, den doch das Besinnen der folgenden Sekunden schon verwirft. Mit Gründen, die ich ja anführte und die ja die Ihren sind. Noch genauer: es ist psychologisch sicherlich richig, dass Hofreiter, von der Stimme seines Kindes getroffen, aufwimmert. In diesem Moment. Es mag auch richtig sein, dass er dem Knaben sofort entgegenstürzt, obwol er sich in diesem Moment – auch nicht eben fähig fühlen könnte, ihn zu sehen. Dennoch: er gibt einer Augenblicksregung nach. Einer begreiflichen. Aber es ist zugleich auch der letzte Moment des ganzen Stückes. Die stärkste Betonung also (glaubt man) desjenigen, was übrig bleibt. Mein Einwand gilt also nur der sekundenlang falschen Perspektive, die innerhalb der Komödie freilich eine psychologische Stütze sein kann, die aber an ihrem Schluß doch eine ganz andere kunst-ökonomische Bedeutung hat. Mein Einwand ist der, dass hier eine absolut psychologische Richtigkeit mit einer dramatischen Richtigkeit kollidirt, wodurch beide aufgehoben werden. Was nicht geschähe, wenn Hofreiter, vom Rufen seines Kindes ereilt, zwar aufwimmern würde, aber erstarrt, von allem, was er erlebt hat, geschwächt, regungslos stehen bliebe. Die Perspektive wäre dann die: dass jenes Kind im Garten draußen vergeblich ruft, und dass dem zerstörten Manne auf der Szene nichts mehr übrig ist. Und die letzte, stärkste Betonung des Stückes wäre dann so eindringlich, dass sie keine Sekunde lang anders gedeutet werden könnte.
Nur noch eines: ich habe nicht daran gedacht, ethische Bedenken vorzubringen, kann mich auch nicht besinnen, jemals Einwände der Moral gegen die Gestalten eines Kunstwerkes erhoben zu haben und wundere mich, dass Sie’s so nehmen. Aber den menschlichen Inhalt einer Gestalt werden wir doch wol immer wägen. Das ist, abseits von Ethik, eine Frage des künstlerischen Materials und seiner Behandlung. So habe ich bei Hofreiter, wenn ich sein Persönlichkeitsgewicht und den tragisch gewendeten Niederschwung des Stückes zusammenhalte, seine Konsistenz an der Wucht des Ernstes messe, in den er gestellt ist, die |Empfindung, dass hier zwischen dem Material und seiner Behandlung irgendwelche Widersprüche bestehen. Widersprüche, die ist mir aus manchen Temperamentsquellen des Dichters gewiß erklären kann, auch damit, dass irgend ein tieferes Mitleben in Ihnen dem Hofreiter gleichsam mit einer feinen Persönlichkeitsfaser noch verbunden blieb, dass ein letztes Loslösen und ganzes Freiwerden des Schöpfers vom Geschöpf dadurch nicht statttfand, und damit auch nicht dies Freie, die ganze Künstlichkeit der Figur überschauende Spiel des Schöpfers mit dem Geschöpf. Noch genauer: dass dasjenige, das der Ernst des Hofreiters ist, sich nicht immer von Ihrem, des Dichters Ernst differenzirt, dass beides manchmal zusammenfließt, und sie aus einem Ursprung zu kommen scheint. Eine Gestalt scheint es jetzt, die gelegentlich noch von einer persönlichen Sentimentalität des Dichters umwittert ist. (Was Sie nicht mißverstehen werden.) Man brauchte aber diesen Hach nur wegzublasen und die vollkommenste Figur für die vollkommenste und edelste Komödie träte hervor.
Es ist natürlich schwer für uns, für Sie wie für mich, über diese Dinge einig zu werden. Besonders in Briefen. Aber ich denke, wir haben im Allgemeinen und in Ihrer Arbeit so viele Treffpunkte, dass wir uns dieser einen Divergenz getrösten können. – Der Dagobert ist am 14. November. Am 13. (Montag) ist die Generalprobe, und ich werde mich natürlich sehr freuen, wenn Sie Beide kommen wollen. Inzwischen hoffe ich, Sie noch zu sehen. Meine Frau ist für wenige Tage in Berlin.
Herzlichste Grüße. Ihr
Salten
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