Paul Goldmann an Arthur Schnitzler, 29. 9. [1897]

Fondateur M. L. Sonnemann.
Journal politique, financier,
commercial et littéraire.
Paraissant trois fois par jour.
Bureau à Paris Paris, 29. Sept.

Mein lieber Freund,

Dein Brief hat mich etwas später erreicht, da er recommandirt war. Gestern Abend habe ich ihn erst in Händen gehabt. Deine herzzerreißende Schilderung hat mich tief erschüttert. Armer, armer Freund! Und ich habe nicht einmal bei dir sein und Dir mitfühlend die Hand drücken können!
Daß Du Dich mit Gedanken von Schuld und Sühne quälen würdest, ahnte ich sofort. Liebes Kind, denk’ nur einmal ruhig über diesen tollen Unsinn nach. Es ist unser verfluchtes Schreiber-|Metier, das uns die Manie gibt, überall Zusammenhänge zu suchen. Wir leben ja davon, ich meine künstlerisch, daß wir Beziehungen zwischen den Dingen herstellen. Aber das ist ja ein Schwindel, den wir dem Publicum vormachen. In Wirklichkeit gibt es keine Zusammenhänge. Es ist Alles nur ein plumpes und ungeordnetes Nebeneinander. Das wissen wir, wenn wir ehrlich sind, besser als alle Anderen. Und nun sollten wir uns gar selbst damit betrügen? Ich bin sonst ein ruhig und klar denkender Mann. Und auf einmal soll ich mich zum Aber|glauben wenden, blos weil ich darin allerlei Vorwände finde, um mich selbst zu martern? Schuld und Sühne sind literarische Pointen, und ich versichere Dich, das Schicksal gibt sich nicht damit ab, Dramen zu schreiben.
Auch leugne ich aufs Entschiedenste, bei strengster Beurtheilung, jede Spur von Schuld. Du hast zärtlich und liebevoll Alles vorbereitet für den Eintritt des Kindes in die Welt. Wie soll man denn noch mehr ein Wesen lieben, das noch nicht existirt? Und wo steht geschrieben, daß Jemand, der ein Kind erwartet, aufhören |soll, sein eigenes Leben zu leben? Wenn die Liebe der Väter auf Leben oder Nichtleben der Kinder Einfluß hätte, wie kommt es dann, daß zahlreiche Kinder in der Welt herumlaufen, die nicht einmal wissen, wer ihr Vater war? . . . . . 
Daß Einem in Augenblicken des Schmerzes Manches klar wird, bestreite ich auch. Nur in der Ruhe sieht man klar, der Affekt täuscht, und der Schmerz lügt ebenso wie die Freude. . . . 
Wäre ich nicht ein so armseliger Sklave, so wäre ich sofort nach Empfang Deines Briefes |nach Wien gekommen. Inzwischen bist Du ja übrigens sicher ruhig und gefaßt geworden. Es ist eine traurige Geschichte; aber wenn man sichs genau überlegt, wird doch alles Wesentliche unberührt sein, wenn einmal der Sturm vorüber ist. Eine Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Man wischt sich die Thränen ab und hofft aufs Neue. . . . 
Bitte, schreib’ mir bald, wenn auch nur drei Worte. Wissen möchte ich auch, ob Richard informirt ist.
Grüße Deine Freundin, |die liebe, prächtige Frau, die so sacht zu dulden weiß, und sei Du selbst von ganzem Herzen gegrüßt.
In Treue
Dein
 Paul Goldmann
Ich werde natürlich die Idee nicht los, daß das Alles so gekommen ist, weil es meinen Namen tragen sollte.
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