Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 30. 12. 1925

|Kopenhagen 30 Dec 25

Mein liebster Freund

Das Jahr ist zu Ende, und ich habe Ihnen unendliches zu danken, dass es in Wien für mich einigermassen gut ablief. Sie als Artzt wissen, dass uralte Menschen meistens beschwerlich sind. Sie haben es mich nicht fühlen lassen, aber Ihr Haus in Wien ist mir ein Heim gewesen. Sie haben wol in 35 Jahren unsere Freundschaft ununterbrochen bewahrt, obschon Sie immer mehr leisteten, als ich im Stande war. Ihre Gastfreundschaft Frau Rung und mir |gegenüber wird mir unvergesslich sein, was freilich ein bischen lächerlich klingt, da die 84 jährigen sich gewöhnlich nicht lange einer Erinnerung erfreuen können.
N’importe! So lange wir das Tageslicht sehen, tut es nicht viel, ob wir uns schneller oder langsamer bewegen. – Ich habe Ihnen noch nicht für die feine Erzählung Die Frau des Richters gedankt, nicht, dass ich Sie weniger schätze, aber ich hatte sie schon irgendwo gelesen, bevor sie in Buchform erschien. Mit Freude las ich, dass Sie Teatererfolge haben. Arm, wie wir alle sind, ist das von Nutzen. Aus vollem Herzen
Ihr
Georg Brandes
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