|28. 12. 1922.
Sehr verehrter Herr Thomas Mann.
Das Jahr darf doch nicht zu Ende gehen, ohne dass ich Ihnen – recht sehr verspätet
–
für Ihren lieben Brief vom
4. September d. J. danke. Ihre freundlichen
Worte über »
Casanovas Heimfahrt« haben mich sehr
gefreut. Indess hat auch dieses Werk sein Schicksal oder wenigstens seine kleine
Affaire gehabt
↓(↓ich bin dergleichen
ziemlich gewöhnt; –
↓)↓ in
Amerika hat die
Gesellschaft zur Bekämpfung
des Lasters die Konfiskation der englischen Uebersetzung beantragt, der
Verleger wurde in
Anklagezustand versetzt, ich glaube sogar verhaftet, aber die Angelegenheit endete
diesmal mit einer erheblichen Blamage der Tugendbolde und für mich
hatt
e die Sache überdies den Vorteil, dass der
Verleger in Erwartung
künftiger Geschäfte mir einen Teil des Geldes zahlte, das er mir noch schuldig
war.
Ich höre – fällt mir in diesem Zusammenhang ein – dass Sie in
Amerika von
Kirpatrik & Brandt, den Agenten des Verlag
Fischer, vertreten werden. Wäre es sehr indiskret
Sie zu fragen, ob Sie mit den Leuten gute Erfahrungen gemacht haben?
Ihren
Artikel in der
Neuen Rundschau, auf den Sie mich schon vor
Erscheinen aufmerksam zu machen so gütig waren, habe ich natürlich mit dem grössten
Interesse gelesen. Er ist, da Sie das Wort nun einmal lieben, im schönsten Sinne
human. Aber ganz abgesehen von allem Inhaltlichen, selbst wenn ich nicht ganz
einverstanden wäre, Ihrer wunderbaren Prosa würde ich mich immer erfreuen, wie mich
eine
|edle Stimme entzückte, auch wenn sie Vokalisen
sänge. Und es ist alles eher als eine Einwendung gegen den tieferen Sinn Ihrer Worte,
wenn mir persönlich für die innere und äussere Entwicklung eines Volkes die Frage
der
Staatsform von einer ziemlich nebensächlichen Bedeutung erscheint, und dass sich jede
grosse politische Führernatur selbst die Form zu schaffen pflegt, innerhalb deren
sie
sich betätigt und wirkt, ob er nun Kaiser, König, Präsident oder Kanzler heissen mag.
Zu einem Menschen kann ich mich zuweilen bekennen, kaum je ohne Vorbehalt, zu einer
Staatsform als solcher nie. Das wäre vielleicht sehr republikanisch gedacht, wenn
jede Republik – wenn jemals eine Republik – wenn überhaupt jemals irgend eine Form
ihre eigene, ihre imanente Idee zu erfüllen fähig wäre. Aber ich gerate
ins Allgemeine, in einen Essay, das ist meine Sache nicht, ich brächte doch keinen
zu
Ende, er müsste auf dem Wege sterben an der Menge von Parenthesen, die ich immer
wieder für unerlässlich hielte.
Sie kommen im
Jänner nach
Wien, da
werde ich Sie ja hoffentlich sehen. Ich bin im Herbst in der
Cechoslowakei gewesen (in
Teplitz machten sich die Hakenkreuzler peinlich
bemerkbar), im
März soll ich wieder hin, diesmal nach östlicheren
Gegenden, im Frühjahr fahre ich vielleicht nach
Dänemark und
Schweden. Ihr
Roman schreitet hoffentlich seiner Vollendung entgegen.
Ich freue mich ihm und Ihnen entgegen.
Seien Sie vielmals und herzlichst gegrüsst von
Ihrem ergebenen
Herrn Thomas Mann