|Wien, am
1. November
1920
Hochverehrter Herr Doktor!
Ich habe Ihr Schreiben mit größter Freude gelesen – und mit ebensogroßem Bedauern;
mit Freude darüber, daß Sie die Güte hatten, mich zu einem so ehrenvollen und mir in
jedem Sinne erstrebenswerten Amte in Vorschlag zu bringen; mit Bedauern – denn es ist
mir nach dem derzeitigen Stande der österreichischen Gesetzgebung unmöglich, dem Rufe
Folge zu leisten. § 578 der Zivilprozeßordnung lautet nämlich: »Richterliche Beamte
dürfen, solange sie im richterlichen Dienste stehen, die Bestellung als
Schiedsrichter nicht annehmen«, und dieses Verbot findet im § 595 Z. 3 seine
Sanktion, wonach Schiedssprüche wirkungs|los sind, wenn hinsichtlich der Besetzung des Schiedsgerichtes eine gesetzliche
Bestimmung verletzt wurde. Die Teilnahme eines noch aktiven Berufsrichters an dem
fraglichen Schiedsgerichte ist also leider unmöglich.
Sie können sich leicht vorstellen, mit welch bitteren Gefühlen ich diese
unbarmherzigen Paragraphen zitiere.
Ich werde in den näch
sten Tagen im Aus
schuß der
Richtervereinigung anregen, daß unter die anläßlich der Be
soldungsreform von
den Richtern zu
stellenden Forderungen auch die nach Streichung des § 578 ZPO – der
jetzt vollkommen ob
solet und der unnötige Ausdruck eines den Richtern gegenüber bei
Schaffung des Ge
setzes gehegten Mißtrauens i
st – aufgenommen werde, und ich bin
ziemlich
sicher, mit meiner Anregung durchzudringen: ob aber die Streichung
so bald erfolgen wird, daß für den
Verein meine Per
son noch in Betracht kommen
könnte, i
st doch
sehr zweifelhaft.
|Es bleibt mir demnach nichts übrig, als
Ihnen, hochverehrter Herr Doktor, auf’s herzlich
ste zu danken und Sie zu bitten,
meinen Dank den andern Herren der
Genossenschaft zugleich mit der Ver
sicherung zu übermitteln, daß
nur die erwähnte Ge
setzesbe
stimmung mich abhält, das
Anerbieten anzunehmen.
Mit den besten Grüßen Ihr
sehr ergebener
DrRAdam.
Nachschrift vom 3. November:
Ich bitte wegen Verzögerung der Absendung des Briefes um Entschuldigung. Ich wollte
vorher durch Nachfrage bei Kollegen mir Sicherheit verschaffen, ob meine
Rechtsansicht wirklich die richtige sei und ob nicht etwa doch für mich eine
Möglichkeit bestehe, Ihnen – wie ich gerne wünschte – andern Bescheid zu senden. Aber
|das Gesetz steht starr und unbeugsam
da.
Nochmals die besten Grüße und vielen Dank!
Ihr
DrRAdam