Hochverehrter Herr Doktor!
Da ich vom
Deutschen Volkstheater zwei Monate lang
nichts zu hören bekam, konnte ich meine verzweifelte Ungeduld nicht mehr bezwingen
und
schrieb an die Direktion,
sie möchte
so gut
sein, mich vom Stande der Dinge zu
ver
ständigen (was wir in der Amts
sprache eine »Betreibung« nennen). Heut erhielt ich
nun vom Dramaturgen D
r Glücksmann folgenden Brief:
»Ihre beiden dramati
schen Arbeiten ›
Der Fremde‹
und ›
Yppl‹
sind läng
st gele
sen. Ich ge
stehe
sofort: mit lebhafte
stem Genuß. Die
Christus-Szenen
sind nicht alle gleichwertig, aber doch zumei
st
schön und tief
und nachklingend. Vielleicht wird es möglich
sein,
sie im Rahmen einer
|literari
schen Veran
staltung zu bringen.
Das 3. Bild wird man wohl ausla
ssen mü
ssen, aus inneren Gründen, und vielleicht i
st
auch das 4., nur ein undramati
sches Gleichnis, von der Bühne herab nicht
wirk
sam. 1. 2. 5. und 6 dürften jedoch ihre Probe be
stehen.
»Was ›
Yppl‹ anbelangt,
so i
st es eine gute
Satire auf das klein
städti
sche Beamtenleben. Die Lö
sung des Konfliktes er
scheint mir
freilich gewalt
sam und nicht überzeugend, die Wiederholung der Probe des
Dilettanten-Stückes wäre zu vermeiden, weil
sie ein bischen auf den Gang der Handlung
drückt. Jedenfalls habe ich es für meine Pflicht gehalten, Herrn Direktor
Bernau für die beiden Arbeiten zu intere
ssieren.
Sobald er dazu kommt, wird er
sie auch le
sen.«
Nach Erhalt die
ses Briefes, des angenehm
sten, den ich noch in Theaterdingen bekommen
habe, begab ich mich – heut vormittags – in das Theater und
suchte D
r Glücksmann auf. Er äußerte
sich
sehr liebenswürdig
|über beide
Stücke und
sagte, er habe
sie dem
Direktor schon läng
st als er
ste der von ihm zu le
senden
vorbereitet, doch
sei er immer noch abgehalten gewe
sen, die Lektüre vorzunehmen.
Daß D
r Glücksmann gerade das 3. und 4. Bild des »
Fremden«
(»
Die Hure« und »
Der Hund«) für untheatrali
sch
hält, i
st mir nicht recht begreiflich, da ich immer gerade die
se beiden Szenen für
die dramati
sch allein wirk
samen gehalten habe, und auch Sie, hochverehrter Herr
Doktor, haben eine ähnliche Meinung geäußert.
Welche Szenen aber zur Aufführung kommen,
scheint mir von
sekundärer Wichtigkeit;
wenn nur überhaupt eine Annahme erfolgte! Denn damit wäre wohl die Möglichkeit
gegeben, einen Verleger zu finden, und ich
sehne mich unbändig danach, ju
st den »
Fremden« gedruckt zu
sehen.
Ich will nun den Ver
such machen, Direktor
Bernau im Theater anzu
|treffen
und ihn zu Be
schleunigung
seiner Ent
scheidung zu veranla
ssen. Sollten Sie,
hochverehrter Herr Doktor, in der näch
sten Zeit einmal mit ihm zu
sammentreffen,
so
bitte ihn bei die
ser Gelegenheit meine Stücke in Erinnerung zu bringen (
sofern es
Ihnen nicht unangenehm i
st).
Außer diesem Ereignis weiß ich aus der Monotonie meiner Existenz nichts zu berichten:
ich arbeite im Amt und lese daheim, halbsatt und halbwarm und halb im
Winterschlaf.
Wenn ich Sie nicht störe, möchte ich Sie gerne wieder einmal aufsuchen; ich habe
einige kleine Lektüreentdeckungen gemacht, die Sie vielleicht interessieren
könnten.
Mit besten Grüßen Ihr sehr
ergebener
DrRAdam