Albert Ehrenstein an Arthur Schnitzler, 6. 5. 1909

Sehr geehrter Herr Doktor!

Wenn ich keinen Zwicker trage (und aus Eitelkeit trage ich meistens keinen), so bin ich recht kurzsichtig; überdies und auch dann ist mein Personengedächtnis ein ziemlich mangelhaftes und gestörtes, warum? Darüber möchte ich gerne etwas näheres erfahren. Jedenfalls haben sich meine Augen schon manchen Ulk mit mir erlaubt, die ärgerlichsten und gröbsten Verwechslungen sind mir zugestoßen. Die anfänglich vorhanden gewesene Geneigtheit, jede Agnoszierung ohne weiteres für wichtig anzusehen, ist infolgedessen einem so zweifelsüchtigen Mißtrauen gegen alle Wahrnehmung gewichen, daß es mir nur sehr selten gelingt, einen Begegnenden richtig zu identifizieren oder gar stets davon überzeigt zu sein. Wie ich glaube, ist mir ein derartiges Malheur schon einmal Ihnen gegenüber, sehr geehrter Herr Doktor, passiert, in einer Tramway nach der Premiere der Donnayschen |Lysistrata. Ein anderesmal nach einer Vorlesung im Mariahilfer Arbeiterheim verschlug mir die Befangenheit jeden Gruß. Ein gewisser kindlicher und doch dämonischer Trotz und Eigensinn verbietet es, wenn man sich von der ersten Lähmung des Willens erholt hat, baldmöglichst den Fehler gutzumachen. Nach dem Gesetz der Trägheit geht man den einmal genommenen Weg verdrossen oder ratlos weiter, und bevor man sich von der Überrumplung durch die selbstverschuldeten Ereignisse freigemacht hat, sagt man sicher »Jetzt isschon alles gleichgültig.« Ich würde derartige Erlebnisse trotz ihrer Wiederkehr gewiß nicht so tragisch nehmen, wenn ich nicht wüßte, wie sehr derartige Unterlassungssünden dem Selbstvernichtungstriebe entsprechen, krankhaftes Benehmen und davon Betroffenen nicht gerade das Leben erleichtert. Das schlechter werdende Gehör trägt auch nicht dazu bei, |die Lage angenehmer zu machen, versäumte Grüße summierten sich mit oft wider Willen emporgefahrenen bissigen Antworten auf falsch verstandenen Bemerkungen, und entrißen mir die wenigen Freunde. Es ist eben selbst der Teilnahmsvollste nicht immer in der Stimmung, kurzsichtigen Unverstand von Hochmut, Eigentümlichkeit und Schrullen von Überhebung zu sondern. Sollte Mittwoch, den 5. Mai um 9h früh meinerseits Ihnen gegenüber eine Kette neuerlicher Verstöße oder Sinnestäuschungen vorgefallen sein, so wäre es mir sehr lieb, wenn ich von allerhand quälenden Betrachtungen befreit würde. Fasscheint es so, als stellte ich die unmöglichsten Dinge bloß zu dem Zwecke an, auch nachträglich entschuldigen zu können. Nie tat ich das Plausible, seit jeher schon war ich mir ziemlich wehrlos ausgesetzt, und wenn es irgend anginge, zöge ich |wahrhaftig mit größtem Vergnügen aus mir aus.
Hochachtungsvoll
Ihr ergebenster
 Albert Ehrenstein.
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