Arthur Schnitzler an Max Mell, 26. 10. 1906

|XVIII Spoettelgasse 7.
Wien am 26. Okt. 06

Sehr geehrter Herr Doktor,

In Ihrem Stück, das Sie die Freundlichkeit hatten mich lesen zu lassen, gibt es viele wohlgelungene poetische und theatralische Momente und doch will am Ende kein Gefühl der wirklichen Befriedigung aufkommen. Woran das liegen mag? Wie ich glaube, an einer gewissen Lockerheit in der Behandlung der drei Hauptgestalten, denen allen nicht nur die schöne Inkonsequenz der Leidenschaft sondern auch jene andre zu Teil geworden ist, die durch eine gewisse Willkür oder Unsicherheit des Autors verschuldet wird. Ich kann nicht glauben, dass die Gräfin, die Sie schildern, trotz der Gefahren, die sie ahnt, die innere Kraft aufbringen wird, ihre Rolle zu studieren, sich zur Vorstellung bereit zu halten und tatsächlich aufzutreten. Und ich glaube noch weniger an die Grausamkeit ihres Grafen im zweiten und an seine etwas salbaderische Güte im dritten Akt. Vielleicht könnte ich an die Grausamkeit oder an |die Güte glauben denn es bleibt ja Grausamkeit, trotzdem oder wird sogar erst Grausamkeit weil der Graf schon im zweiten Akte weiss, was er im dritten tun wird. Freilich weiss ich nicht zu sagen, welchen Ausgang ich diesem dritten Akte wünschen würde. Gewiss nicht den tragischen, den Sie im Verlaufe der Begebenheiten erwarten lassen schon mit der Absicht, dass diese Erwartung getäuscht werde. Sie haben das innere Abrücken der Gräfin von dem Schauspieler an einigen Stellen angedeutet, aber ich glaube nicht, dass dieses Abrücken durch die paar neuen Lichter, die Sie dem Charakter des Paares aufsetzen, genügend motiviert erscheint. So fehlts grossenteils an der schönen Allmählichkeit, welche mir ein Grundgesetz aller Kunstwerke zu sein scheint, denn auch was als überraschend auf uns wirkt, ist im wirklichen Kunstwerk immer nur scheinbar überraschend, irgendwo in den Tiefen unserer Seele haben wir gewusst, dass es so kommen wird; sonst hätte es nicht so kommen können.
|Es ist schade, dass wir nicht mehr über das Stück plaudern können, wie es neulich zwischen Ihrem Fräulein Schwester, meiner Frau und mir geschehen ist. Es gäbe noch viel zu sagen. Natürlich auch sehr viel Günstiges. Doch das Günstige ist, wenn einmal, wie bei Ihnen, ein so beträchtliches Talentniveau angenomnen werden darf, allzu selbstverständlich. Doch möchte ich nicht verschweigen, dass Sie in der Behandlung des Verses nicht überall so sorgfältig gewesen sind, wie man es gerade von Ihnen hätte erwarten dürfen. Im Ganzen aber läuft die Sprache höchst gefällig. Und auch die ganze Atmosphäre der Komödie hat zuweilen einen ganz eigenen Reiz.
Und nun zur praktischen Seite der Frage. Meine Ansicht, dass dem Stück bei einer event. Aufführung kein beträchtlicher Erfolg beschieden sein dürfte, komnt nicht in Betracht und selbst wenn Sie meine Meinung teilten, sollten Sie sich nicht abhalten lassen, alle die Wege zu beschreiten, die man eben als Verfasser eines Stücks zu gehen hat. Alle Erfahrungen müssen zum |erstenmal gemacht werden und besser mit einem noch nicht ganz gelungenen, als mit Ihrem nächsten, wahrscheinlich bedeutenderen Stücke. Dazu kommt, dass man ja durchaus nicht voraussehen kann, ob wir uns nicht irren und ob Sie nicht gerade mit dieser Komödie reussieren werden. Auch ist man ja nicht verpflichtet, ausschliesslich Meisterwerke zu schreiben. (Und wenn man verpflichtet wäre?) Also ich finde es nicht im Geringsten anstössig, selbst mit einem Stück hervorzutreten, an das man selbst nicht ganz glaubt. Das Wesentliche ist nur, dass Sie selbst keinen allzugrossen Wert auf die innere Bedeutung Ihrer Komödie legen und dass Sie dessen äussere Schicksale nicht allzu ernstnehmen sollten – auch wenn es sie in der Theaterwelt mit einem Schlage berühmt macht.
Ich hoffe bald wieder von Ihnen zu hören und grüsse Sie herzlich.
Ihr sehr ergebener.,
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