Arthur Schnitzler an Richard Beer-Hofmann, 17. 6. 1898

|Wien, 17. 6. 98.
Lieber Richard, beiliegend mein Interpunktionsgefühl. Im wesentlichen liegt ja nicht viel dran. Hugo ist in der Brühl, ich wollte gestern zu ihm; aber es regnete. Am Tag meiner Abfahrt hatte ich Regen bis Wr. Neustadt – dann war es schön und blieb so bis gestern. Meine Sommerpläne sind verpfuscht. Man lässt sie nicht mit mir reisen, so wird ein enervirendes Hin und Her herauskommen. Ich bleibe vor allem einmal bis Mitte Juli in Wien; bin dann ein paar Tage mit ihr und ihrer Schwester sowie Schwager in Gr. zusammen – wohin ich vom 20.27. Juli gehe, weiss ich nicht. (Wollen Sie irgendwo mit mir zusammen sein? Aber nicht in Steindorf) Dann per Rad mit ihr und den Ihren nach Tegernsee. – Von dort verschwind ich sofort; – wahrscheinlich in die Schweiz. Da werd ich eine Zeitlang mit der Mama zusammen sein. (Vierwaldstädtersee). Die letzte Augustwoche wahrscheinlich in Tegernsee – dann in den ersten Septembertagen wenns geht, durchs Ampezzo per Rad nach Venedig. –
Im übrigen arbeite ich und fühl mich aus den bekannten Ursachen nicht wohl. – (Milder Ausdruck.)
Brief und Carton hab ich erhalten, danke sehr. Wie gehts Ihnen? Machen Sie was? Paul G. hat Recht, sag ich Ihnen! – Gustav Schw. und Leo V. werden sicher Ihre Grüsse erwidern, sobald ich sie ihnen ausgerichtet habe. – Das gleiche nehm ich von Paula, ja beinah von Mirjam an. Sie wird einmal sehr gerührt sein, wenn sie als alte Frau ihrer Enkelin das Gedicht vom Urgrosspapa vorlesen wird. Und auch Ihrer Urenkelin werden vielleicht Thränen ins Auge kommen. Auf Wiedersehen, womöglich noch vorher.
Herzlich Ihr
Arthur.
(nach Steindorf)

Zeile 2 nach Sieh ,
Zeile 3 – fort!
Zeile 5 nach ; ein –
Zeile 2 statt – lieber ,
4 das auch stört nicht.
Zeile 6, lieber kein –
Zeile 1 – fort!
Zeile 2 ebenso
Zeile 7 ist ein Beistrich; an den gleichen Stellen Str I u II fehlt er –
eins von beiden! –
Zeile 4 lieber , statt –
Zeile 6, der erste – fort
Zeile 7 der letzte –

|Schlaflied für Mirjam

      Schlaf mein Kind – schlaf, es ist spät.
      Sieh, wie die Sonne zur Ruh dort geht;
      Hinter den Bergen stirbt sie im Roth.
      Du, – du weißt nichts von Sonne und Tod,
      Wendest die Augen zum Licht und zum Schein
      Schlaf – es sind so viel Sonnen noch dein,
      Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein.

      – Schlaf mein Kind – der Abendwind weht
      Weiß man, woher er kommt – wohin er geht?
      Dunkel, verborgen die Wege hier sind
      Dir, und mir, und uns allen mein Kind.
      Blinde so geh’n wir, und gehen allein
      Keiner kann Keinem Gefährte hier sein –
      Schlaf mein Kind mein Kind schlaf ein

      |Schlaf mein Kind – und horch nicht auf mich;
      Sinn hat’s für mich nur – und Schall ists für dich.
      Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn,
      Worte – vielleicht eines Lebens Gewinn.
      Was ich gewonnen, gräbt mit mir man ein,
      Keiner kann Keinem ein Erbe hier sein,
      Schlaf mein Kind – mein Kind schlaf ein.

      Schläfst du Mirjam? – Mirjam mein Kind,
      Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt
      Blut von Gewes’nen – zu Kommenden rollt’s;
      Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz.
      In uns sind alle; wer fühlt sich allein?
      Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein,
      Mirjam mein Leben – mein Kind schlaf ein.
Richard Beer-Hofmann
    Bildrechte © University Library, Cambridge