|Wilhelm Bölsche 12. VI. 93
Hochgeehrter Herr Dr!
Sie haben ein Recht, ungehalten zu
sein, aber ich wün
schte Sie in meine Lage, um dann
Ihr Urteil zu hören. Ihr Mahnbrief i
st bis jetzt unbeantwortet geblieben, weil ich
verrei
st war, – eine äußer
st notwendige Ruhepau
se! Daß Ihre
Novelle nicht vorher erledigt war, i
st ja eine redaktionelle
Sünde. Bei der Ma
sse der Ein
sendung und in Anbetracht des Um
standes, daß ich die
Redaktion bis in jede Couvertadre
sse hinein ganz allein zu be
sorgen habe, i
st es mir
allerdings noch nicht einmal als »Ideal« aufgetaucht,
späte
stens in 8 Tagen
|jede Ein
sendung erledigen zu können, zumal da ¾ der
Ein
sender
selb
st bei dicken Romanen und Dramen nicht bloß redaktionelle,
sondern auch
noch »wirkliche« Urteile verlangen.
Was Ihre
Novelle anbetrifft,
so i
st
sie mir
p
sychologi
sch nicht recht durchdringlich: in die
ser fragmentari
schen Form lie
st
sie
sich bloß wie eine Um
schreibung des
Lombroso’
schen Dogma’s von der gleich
sam präde
stinierten Dirne, aber
nicht wie eine Dichtung. Ent
schieden verlangt die
ser Stoff viel mehr Flei
sch und
Blut, und vielleicht bearbeiten Sie ihn
so noch einmal. Die
Szene,
|wie
das Mädchen dem Bräutigam ihre Gefühle bekennt, halte ich für p
sychologi
sch
sehr
unwahr
scheinlich!