Wilhelm Bölsche an Arthur Schnitzler, 12. 6. 1893

|Wilhelm Bölsche 12. VI. 93

Hochgeehrter Herr Dr!

Sie haben ein Recht, ungehalten zu sein, aber ich wünschte Sie in meine Lage, um dann Ihr Urteil zu hören. Ihr Mahnbrief ist bis jetzt unbeantwortet geblieben, weil ich verreist war, – eine äußerst notwendige Ruhepause! Daß Ihre Novelle nicht vorher erledigt war, ist ja eine redaktionelle Sünde. Bei der Masse der Einsendung und in Anbetracht des Umstandes, daß ich die Redaktion bis in jede Couvertadresse hinein ganz allein zu besorgen habe, ist es mir allerdings noch nicht einmal als »Ideal« aufgetaucht, spätestens in 8 Tagen |jede Einsendung erledigen zu können, zumal da ¾ der Einsender selbst bei dicken Romanen und Dramen nicht bloß redaktionelle, sondern auch noch »wirkliche« Urteile verlangen.
Was Ihre Novelle anbetrifft, so issie mir psychologisch nicht recht durchdringlich: in dieser fragmentarischen Form liessie sich bloß wie eine Umschreibung des Lombrososchen Dogma’s von der gleichsam prädestinierten Dirne, aber nicht wie eine Dichtung. Entschieden verlangt dieser Stoff viel mehr Fleisch und Blut, und vielleicht bearbeiten Sie ihn so noch einmal. Die Szene, |wie das Mädchen dem Bräutigam ihre Gefühle bekennt, halte ich für psychologisch sehr unwahrscheinlich!
Mit herzlichem Gruß
Ihr
W. Bölsche
    Bildrechte © Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar