Georg Brandes an Arthur Schnitzler, 12. 7. 1925

|Kopenhagen 12 Juli 25
Freund! Haben Sie herzlichen Dank für herzliche Worte.Unter Ihren Uebeln scheint einem 83 Greis das Ohrleiden das einzige ernste. Glücklicherweise ist es nicht schlimmer, als dass Sie sich gastfreundlich mit den Leuten unterhalten können, und theatralischen Erfolg erleben. Ich las kürzlich sehr genau aufs Neue Beatrice’s Schleier und fand darin Tiefen, eine Einsicht in die Frauenseele, die ich nie gehabt hab und nie erwerben könnte. Bin dazu geschaffen von complicirteren Frauen an der Nase herumgeführt zu werden und nur die einfachen zu verstehen. – Sie sind und bleiben für mich der Angelpunkt Wiens. Da Sie mit vielen Menschen und mit dem Theater zu tun haben, kennen Sie nicht mein Loos, die Einsamkeit. Alle fast sind gestorben, die mir nahe standen, alle |die wenigen, an die ich Vertrauen haben konnte. Und ich mache keine neue Bekanntschaften, habe zu viele Täuschungen erlitten. Unter uns – bitte, sagen Sie es Niemand – die sogenannte Menschheit ist eine abscheuliche Bande. Es gibt ja glücklicherweise einige Ausnahmen. – Kopenhagen ist im Sommer eine Wüste, aber ich mag nicht reisen, arbeite stetig, aber es ist »die Arbeit des schlechten Kopfes« wie mein alter Schuldirector sagte, wenn ich meine Irrthümer mit meinem Fleiss entschuldigen wollte. – Sie haben doch wenigstens Erfolge aufzuweisen, in meinem Fach gibt es keine Erfolge; ich verkaufe 1500 oder 2000 Exemplare in meinem Patria und die Uebersetzungen bringen nichts ein.Doch genug geheult und seien Sie innigst bedankt. Ihr
Georg Brandes
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