20. 10. 1914.
Lieber und verehrter Freund.
Erst heute danke ich Ihnen für Ihren Brief vom
23. August d.J., der
immerhin schon am
10. September bei mir eingetroffen ist. Wie lächerlich
muss Ihnen mein Schreiben aus
Celerina
erschienen sein, das schon mitten in den Stürmen des Weltkrieges bei Ihnen eintraf;
kam es doch mir selbst schon am Tage, da ich es absandte, recht unzeitgemäss vor.
Aber die Gründe, die mich bewogen es doch nicht zurückzuhalten habe ich Ihnen ja
doch schon damals dargelegt
↓,↓
und ich kann heute wirklich nur um Entschuldigung bitten, dass ich Sie in solcher
Zeit überhaupt mit einem Privatwunsch bemüht oder wenigstens gelangweilt habe. Wenn
aber auch Privatwünsche jetzt notwendig und gerne zum Schweigen verurteilt sind und
jedes Privatinteresse irgendwie und irgendwo mit dem Allgemeininteresse verbunden
scheint; es führt
|doch jeder, ob er nun will oder
nicht, auch seine Privatexistenz weiter und man gibt am Ende der Zeit auch etwas,
indem man sich selber zu bewahren sucht, so weit es ohne Schaden für die
Allgemeinheit möglich ist. Allzu viele sieht man heute, die in einem ins Leere
gewandten Betätigungstrieb sich nutzlos verschwenden und Neigung zeigen sich einem
äussern oder innern Beruf zu entfremden, innerhalb dessen,
beim↓durch den↓ Versuch ruhiger Weiterarbeit, sie die Sache ihres Vaterlandes, wenn auch nur
mittelbar, aufs Beste fördern könnten. Freilich ist
↓es eine sehr
begreifliche↓die Sehnsucht von Vielen, die nicht gerade in der Front
stehen, oder sonstwie zu Kriegsdienstleistungen herangezogen sind, am allgemeinen
Schicksal in deutlicherer Weise teilzunehmen, als es sich durch Fortführung ihrer
Friedensarbeiten offenbaren würde, und man kann sagen, dass auch auf diese Art heute
viel Gutes, besonders auf dem Gebiete der Wohltätigkeit,geleistet wird.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass
|Dänemark, sowie die andern neutralen Staaten,
mehr von dem für
Deutschland und
Oesterreich Ungünstigen als von dem Günstigen zu
lesen bekommt. Wir sind hier jedenfalls immer wieder von Neuem starr über die
ungeheuerlichen Lügen, die in der ausländischen Presse nicht nur von den Ereignissen
im Feld, sondern auch von den inneren Zuständen unseres Landes verbreitet werden.
Obwohl ich annehmen kann, dass Sie im Ganzen leidlich orientiert sein werden, so möchte ich Ihnen doch jedesfalls mitteilen,
dass in
Wien, im Gegensatz zu den Gerüchten von
Teuerung und dergleichen, völlig geordnete Zustände herrschen, dass beinahe nirgends
nennenswerte Preissteigerungen erfolgt sind, dass die ökonomischen
Zustände↓Verhältnisse↓ hier nicht nur nicht schlechter, sondern besser sind als im vorigen Jahr,
dass für die Arbeitslosen, deren Zahl, wie mir selbst ganz merkwürdig erscheint, in
diesen Jahr nicht grösser sein soll als im vorigen, von öffentlicher und privater
Seite ausreichend
|gesorgt wird, dass alle Theater
spielen, die meisten bei sehr gutem Besuch, und dass einem das ganze Elend des Kriegs
eigentlich nur dort vor Augen tritt, wo die einzigen, bisher unbezweifelbaren
Resultate desselben zu sehen sind, nämlich in den Spitälern, wo die Verwundeten
liegen. . Aber auch von dort bringt man keineswegs
ausschliesslich trübe Eindrücke nach Hause. Denn beinahe alle Soldaten und Offiziere,
die vom Kriegsschauplatz nach Hause kommen, auch wenn sie sehr Grauenhaftes zu
erzählen wissen, sind von grosser Zuversicht erfüllt, ja, sie waren es auch schon
zu
einer Zeit, wo die Stimmung der Bevölkerung in manchen Kreisen zu wünschen übrig
liess. Aber auch das ist in den letzten Wochen, in denen durchaus gute, glaubwürdig
gute Nachrichten bei uns eintreffen, anders geworden und diese Hoffnungsfreudigkeit
ist im äussern und innern Leben unserer Stadt nicht zu verkennen.
Ich wünschte sehr zu erfahren, ob
|Sie von Ihrem
im Feld stehenden
Schwiegersohn Gutes hören. Was uns bisher die Feldpost bisher
gebracht hat, so weit es sich auf persönliche Bekannte und Freunde bezieht, ist von
beruhigender Art gewesen.
Vor Voraussagen wollen wir uns hüten; unsere Wünsche sind zu selbstverständlich, als
dass wir sie erst aussprechen müssten. Und doch, wieviel Unheil, nicht nur für
Schuldige, sondern auch für Unschuldige flehen wir, nicht einmal ganz gedankenlos,
durch unsere Wünsche herab. Ja, nach den Einrichtungen dieser Welt ist sogar zu
befürchten, dass mancher von den Allerschuldigsten ganz ohne Strafe ausgehen wird.
Aber ziemt es sich ↓denn↓ in dieser überwältigend grauenhaften
Epoche derartige Worte ↓wie↓ Schuld, Strafe, Verantwortung, zu gebrauchen, a↓? A↓lles Philosophische und Ethische verlischt im Sturmhauch der Geschichte.
Bitte schreiben Sie mir bald wie es Ihnen geht. Meine
Frau und ich grüssen Sie herzlichst
[handschriftlich:] Ihr
Arthur Schnitzler