Therese Rie-Andro an Arthur Schnitzler, 3. 5. 1923



*Wien, 3. Mai 1923.

Verehrter Herr Doktor,

wie sehr mich Ihre guten und lieben Worte erfreut haben, kann ich Ihnen schwer schildern; denn Sie sind es ja gewesen, der mich und meine ganze Generation künstlerisch gesäugt hat – die Kühnheit dieses Bildes bedrückt Sie hoffentlich nicht! – und es iſt kaum vorstellbar, was aus uns geworden wäre, wenn wie Sie, Gustav Mahler und Hugo Wolf nicht gehabt hätten, zu denen ich als Reſpondizierenden auch noch Kainz rechnen möchte. Ich bin mein ganzes Leben lang viel mit Ihren Gestalten umgeben gewesen und namentlich Herr v. Sala war es, der mich oft und oft auf meinen Wienerwald-Spaziergängen begleitet hat. Es gibt kaum eine Frage meines Lebens, die ich nicht mit ihm durchgesprochen habe und oft habe ich mich auch über ihn ärgern müſſen, weil er gar nicht meiner Ansicht war und sich zuweilen in der nichtsnutzigsten Art über mich luſtig gemacht hat. Aber das war heilsam. Und das meiſtzitierte Werk in meinem Hause iſt jedenfalls »Literatur« gewesen, das mich, so hoffe ich wenigſtens, vor mancher kleinen Geschmacksentgleisung bewahrt hat. So haben Sie also auch noch ungemein pädagogiſch gewirkt!
*Manches Jahr habe ich mir gewünscht, Ihnen das einmal persönlich zu sagen, dann aber davon absehen gelernt. Denn es wäre nur auf Grund gemeinsamer gesellschaftlicher Beziehungen möglich gewesen und davon halte ich nicht sehr viel. Es kot dabei kaum jemals etwas Menschliches heraus und wird schließlich nur zu einer Serie von Verlegenheiten. Und am Ende iſt es einem Künſtler wol lieber, wenn die Saat, die er in andern gesät hat, zu einer, wenn auch noch so bescheidenen Frucht reift, als wenn ihm noch eine Dame versichert, wie sehr sie seine Werke bewundere! – –
Nur der freundliche Passus in Ihrer Karte: Sie wollten auch meine andern Arbeiten kennnen lernen, veranlaßt mich, Ihnen mein kleines Buch »Die Komödiantin Dora X.« zu schicken; sonſt bin ich nicht so, daß ich die Menschen mit meiner Literatur überschütte. Das Büchlein bitte ich Sie, aber nur als Eisenbahnlektüre zu verwenden; zu viel mehr taugt es nicht. Es iſt ein nicht sehr tiefes Problem, nicht sehr tief gefaßt und für mich höchstens dadurch bemerkenswert, daß es Jahre später in meiner Umgebung ziemlich wahr geworden iſt. Wie es denn offenbar den meiſten Schreibenden, den Kleinen wie den Großen, so ergeht, *daß sie meinen, das Leben abzuschreiben, während es schließlich das Leben iſt, daß sie ganz munter plagiiert. – –
Wenn ich aber vorhin von gemeinsamen Beziehungen sprach, die ich nicht für so wichtig halte, so möchte ich doch einer gedenken, die mir lieb und teuer iſt und an die ich denken muſs, so oft ich Ihren Namen höre: der Erinnerung an Ihre Eltern, die ich beide noch gekannt habe und namentlich an Ihren Vater, der meine früheſte Kindheitserinnerung bildet. Man sagte mir, daſs er mich als 3jähriges Kind von einer schweren Diphteritis errettet habe und es iſt meine erſte Erinnerung überhaupt, wie er mir ier eine Schokolodebonbon auf einen Löffel Chinin tat, daſs ich das bittere Zeug nehmen sollte. Wieviel iſt seither vorbeigegangen und vergessen worden, aber das Bild iſt mir geblieben! – – Im Nachlaß meiner Eltern fand ich später ein Tagebuch meines Vaters aus dem Jahre 1863, in welchem viel von einem Briefwechsel mit dem Ihren die Rede iſt – sie waren ja Kollegen, wie ich weiß, schon vom Schottengymnasium her oder mindeſtens vom erſten Jahre Medizin. Ich habe oft nach Briefen gesucht, aber nichts gefunden – nur diese Karte fand ich einmal und schicke sie Ihnen. Trotz *des belanglosen Inhalts grüßt Sie vielleicht eine liebe und vertraute Schrift! –
Bitte, lächeln Sie nicht über diesen langen Brief als Antwort auf Ihre Karte – Herr v. Sala täte es, sein Schöpfer iſt hoffentlich milder – aber ich habe ihn jahrelang »verdrängt«, um mich ganz modern auszudrücken, und einmal mußte er doch geschrieben werden. Ihre freundlichen Worte sind ein Anlaſs dazu. Möchte Ihnen das silberschiernde Dänemark viel Liebes und Freundliches geben! Seien Sie nochmals bedankt und begrüßt von Ihrer
Therese Rie.
    Bildrechte © Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar

    Worte] Sie reagiert hier auf eine nicht überlieferte Karte Schnitzlers, in der dieser ihr zu einer Arbeit gratuliert haben dürfte. Es bietet sich unmittelbar keine Buchausgabe an. Eventuell hat er ihre Besprechung von Stefan Zweigs Amok gelesen, in der auch von »fernen Anatol-Tagen« die Rede ist. (L. Andro: Von neuen Büchern. Amok. In: Neues Wiener Abendblatt, Jg. 56, Nr. 325, 5. 12. 1922, S. 4.)

    Eisenbahnlektüre] siehe A. S.: Tagebuch, 7. 5. 1923

    Schottengymnasium] Johann Schnitzler kam erst zum Studium nach Wien.