Wien, am 24. September 1916
Hochverehrter Herr Doktor!
Ich vermute Sie, nach einem schönen und erholungsreichen Sommer, schon wieder nach
Wien zurückgekehrt und bin, Ihrer liebenswürdigen Erlaubnis eingedenk, auch schon unbescheiden genug, anzufragen, ob ich Sie einmal durch einen Besuch stören darf?
Mir ist die Zeit seit Ende meines Urlaubs unter unausgesetzter und sehr anstrengender Amtsarbeit vergangen, und wenn Sie mich fragen sollten, was ich in diesen Monaten Dichterisches geleistet, so müßte ich sehr kleinlaut werden. Ich habe allerdings an einer sonderbaren
Märchenkomödie zu schreiben begonnen, aber kraft- und zuglos, gewissermaßen im drückenden Bewußtsein der Unterernährtheit, nur an freien Sonntagnachmittagen: und daß dabei nichts Ersprießliches herausschauen konnte, ist gewiß klar.
(Dafür habe ich in den letzten Tagen ein leibliches
Kind gekriegt, einen Buben, der anscheinend gut gedeiht, und damit darf ich mich trösten).
Ich bin Ihnen für viele Bücher, die Sie mir anrieten, großen Dank schuldig: vor allem für den
Coster’schen
Uhlenspiegel und den
Jean-Christophe (ich halte schon beim ersten Bande). Auch den »
Deutschen Krieg« der
Ricarda Huch habe ich zu zwei Dritteln gelesen, mit großer Hochachtung für den phantasievollen Geist, der den Canvas der pragmatischen Geschichtsschreibung mit farbigen Bildern gediegenster Ausführung bestickt hat; aber ich kann mir halt nicht helfen, ich komme über den Eindruck einer – gewiß vorzüglichen und nie geschmacklosen – Handarbeit nicht hinweg, allerdings der umfangreichsten und mühevollsten Handarbeit, die ich noch je gelesen habe; ich muß hinzufügen: auch der originellsten.
Eines der Bücher von
Lenotre (dessen Bekanntschaft ich auch Ihnen verdanke) lese ich gerade:
Bleus, Blancs + Rouges und werde gewiß auch die andern lesen; in dem Zitierten ist ein wunderschöner Komödienstoff zu finden (
Le mariage de Monsieur de Bréchard). Unangenehm berührt mich nur die prononzierte Parteinahme des Autors, der ein erzkatholischer Royalist sein muß, für jeden Antirevolutionär und gegen jeden Terroristen: die zur Folge hat, daß seine historischen Novellen nur Engel und Teufel zu Helden haben.
Wegen der
Memoiren von
Alexandre Dumas Père habe ich vergeblich die
Wiener Buchhandlungen besucht; ich weiß sicher, daß ich ein Exemplar bei Sommerbeginn in einer Auslage sah; es muß seither verkauft worden sein. Selbstverständlich steht Ihnen, hochverehrter Herr Doktor, mein Exemplar jederzeit zur Verfügung. Darf ich es Ihnen schicken?
Ich freue mich schon ungemein darauf, Sie wiederzusehen: ohne Ihre Teilnahme, das fühle ich, wäre ich schon längst entmutigt von allen Dichterplänen abgekommen und zum einfachen
Wiener Bezirksrichter mit einigen Gelehrsamkeitsaspirationen geworden. Und vielleicht bringe ich, wenn nur erst dieser Krieg vorüber ist, doch noch etwas Anständiges zuwege.
Mit den freundlichsten Grüßen Ihr ergebener