Albert Ehrenstein an Arthur Schnitzler, 10. 2. 1910

Sehr geehrter Herr Doktor,

gestern endlich erhielt ich Antwort von Herrn Bie, die ich beilege, da ich mich in deren Interpretation nicht sicher fühle. Ich weiß vor allem nicht, ob ich dem Schreiben entnehmen darf, »Tubutsch« werde – was mir den Fang eines Verlegers erleichtern würde – nach einer Umarbeitung rundschaumöglich sein. Das wäre mir am liebsten, Denn essayistisch habe ich mich noch nicht recht versucht, das Wiener Leben ist mir unbekannt und was Herr Bie unter einem netten Thema versteht (er meint wohl so etwas wie die Hofrichter- oder Borowskaaffaire) hat auf mich bei meiner Gefühlsstumpfheit kaum je einen zu druckfähiger Meinungsäußerung drängenden Eindruck gemacht. Gern aber würde ich mich z. B. Schroeder’s Homerübersetzung befassen, wenn mir das Buch dieses exklusiven Autors zugänglich wäre. Vielleicht können Sie, hochverehrter Herr Doktor, mir raten und zugleich mir eine zweite Frage beantworten, die mich sehr interessiert. Wann nämlich der junge Herr Medardus ursprünglich im Buchhandel hätte erscheinen sollen, wenn er nicht (um die Zeit Ihrer Volkstheaterpremiere?) zurückgezogen worden wäre?
Indem ich herzlichst für Ihre Empfehlung danke, die, scheint es, diesmal doch zu einem für das deutsche Schrifttum erfreulichen Resultate führen dürfte, bin ich mit den besten Grüßen
Hochachtungsvoll
Ihr ergebenster
Albert Ehrenstein.

    Hofrichter] Adolf Hofrichter wurde im Frühjahr der Prozess gemacht. Ihm wurde vorgeworfen, als Aphrodisiakum getarnte Zyankalikapseln an höherrangige Militärs geschickt zu haben, um für seine Beförderung Platz zu machen. Nachdem es bis zum Geständnis ein Indizienverfahren war, fand der Prozess unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit statt.

    Borowskaaffaire] Janina Borowska wurde 1909 von dem Vorwurf freigesprochen, eine Spionin zu sein. Während des Prozesses begannen sie und ihr Anwalt eine Affäre, die dieser nach einiger Zeit lösen wollte. Am 5. 6. 1909 wurde er tot in seinem Bett gefunden, neben ihm Borowska. Im folgenden Prozess gelang es nicht, den von ihr behaupteten Suizid zu wiederlegen und sie wurde am 10. 10. 1910 in Krakau freigesprochen.

    Homerübersetzung] Die Odyssee. Neu ins Deutsche übertragen von Rudolf Alexander Schröder. Gedruckt in 425 Exemplaren. Leipzig: Insel 1910.

    Volkstheaterpremiere] Verwechslung Ehrensteins, diese war immer für das Burgtheater geplant und fand am 24. 11. 1910 statt.