Hermann Bahr an Arthur Schnitzler, 14. 12. 1904



*14. 12. 04
Nachts

Lieber Arthur!

Ich hab Dich nach der Symphonie heut überall geſucht, aber Du warſt wie in die Erde verſunken. So laß mich Dir ſchriftlich geſchwind (denn ich bin todtmüd vor Muſik, geſtern auch nach Walküre, die mich ſo wahnſinnig aufgeregt hat, daß ich heut erſt in der Früh gegen fünf einſchlafen konnte) herzlichſt für Deinen lieben Brief danken. Es iſt möglich, daß Du recht haſt (mit dem, was Du über Deine Intention ſagſt, haſt Du natürlich gewiß recht, fraglich bleibt nur, ob nicht bei der Ausführung, Dir ſelbſt unbewußt, etwas von einer Untergrundſtimmung in Dir, die ſich nach dem Philiſter ſehnt, eingefloſſen iſt), ich mußte mein Gefühl aber einmal ausſprechen, mit einiger Schärfe, die nicht Dir gilt, ſondern mir ſelbſt, einer inneren Schwäche in mir ſelbſt, *an der ich Jahre lang gelitten habe (Manches, was ich jetzt im »Franzl« nicht mehr mag und dieſe blödſinnige letzte Scene des »Apoſtels« iſt aus ihr) und von der ich mich nur durch eine erbitterte Anrufung meiner innerſten Inſtinkte frei gemacht habe – ganz frei freilich erſt, ſeit ich mit dem Tode ſo vertraut bin, ſeit der Tod wirklich mein beſter Freund geworden iſt, der einzige nemlich, den ich mir noch wirklich verdienen will, aber über dies alles einmal mündlich in einer guten Stunde, denn es iſt tiefer, als ſich ſo hinſchreiben läßt, viel »tiefer als der Tag gedacht«, Triſtantief, wo Du es jetzt, im zweiten Akt, viel ſchöner finden *wirſt, als ichs jemals werd ausſprechen können.
Sehr leid tut mir, daß ich Samſtag nicht zu Euch kommen kann, 1) weil ich Hugo verſprochen habe, nach Rodaun zu kommen und 2) weil ich auch dort abſagen muß, weil ich 3) gerade jetzt, bei froheſter innerer Geneſung (der Teufel ſoll den Trebitſch holen, der die ſchönſten Worte ſo beſchmutzt, daß einem grauſt, ſie anzurühren), äußerlich in einem rechten Durcheinander lebe, den ich nicht ändern kann und nicht ändern möchte, kurz: ſo ſehr ich mich wirklich ſehne, wieder einmal ruhig bei Euch zu ſitzen, jetzt gerade gehts in den nächſten Tagen leider nicht.
*Herzlichſt danke ich auch für den Gruß Deiner lieben Frau und erwiedere ihn herzlichſt.
Ich wünſche mir ſehr, daß ſichs ſo treffen möchte, daß wir doch zwei drei Tage in Lueg beiſammen ſind.
Dein alter
H.
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    Walküre] am 3. 12. 1904 in der Hofoper, mit Anna von Mildenburg

    tiefer als der Tag gedacht] Zitat aus dem Lied »Vor Sonnen-Aufgang« in Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (3. Band. Chemnitz: Schmeitzner 1884), hier wohl nach der Vertonung durch Gustav Mahler im 4. Satz der 3. Sinfonie.

    Trebitsch holen, der die schönsten Worte so beschmutzt] vgl. Hermann Bahr an Arthur Schnitzler, 22. 2. 1903

    den ich nicht ändern] Durcheinander: dialektal auch als Maskulinum.