Arthur Schnitzler an Hermann Bahr, 14. 12. 1904

Wien 14. 12. 904

mein lieber Hermann, es beschämt mich fast, dass du über ein im Ganzen doch ziemlich unbeträchtliches Ding wie es der Puppenspieler ist (er gehörte in den Cyclus Lebendg Stunden, aber wegen zu großer Länge des Abends mußte er zurückgesetzt werden) – so schöne Worte sagst. Vielleicht drücke ich mich besser aus, wenn ich sage: anläßlich des Puppenspielers. Denn deiner Auffassung des kleinen Stücks muss ich widersprechen. Vielleicht hab ich nicht das Recht dazu, denn es werden ja doch wahrscheinlich künstlerische Mängel der Sache schuld daran sein, dass du eine Lebensanschauung darin findest, die ich nicht hineinlegen wollte und die mir persönlich fremd ist. Ebenso verhält es sich mit dem Eins. Weg. Ich stehe so wenig auf Seite des Oboëspielers, als ich auf Seiten des Professor Wegrath gestanden habe – freilich auch nicht auf der des Julian und des Puppenspielers. Aber warum? Weil sie eben nicht ganze Kerle sind, keine Leute die – nach der dir bekannten Anekdote von der alten Streitmann – »brav genug« sind – um alles zu dürfen. Wäre der Puppenspieler wirklich ein »Großer«, so bräuchte er sich nicht in Lügen einzuspinnen, um der größere zu bleiben – wäre Julian wirklich ein Großer – so würde das beste seines Wesens nicht mit seiner Jugend auslöschen. Gegen die Herzöge und gegen die Sala’s hab ich nichts – und vor den »Großen Räubern« salutir ich, gleich dir, in Ehrfurcht. Du hast ganz recht: »Entsagung ist nicht immer Reife.« – – nur setze ich hinzu: nicht bei allen. Wenn Individuen wie Wegrath in irgend einem Moment ihrer Existenz die Grenzen ihrer Begabung erkennen, – so ist diese Entsagung, wie jede Erkenntnis innere Reife, oder wenigstens ein Symptom innerer Reife. Ebenso ist für den Oboëspieler wirklich der »Innere Friede und die schuldbefreite Brust« das einzig erreichbare Glück. Und dass ein Mensch wie der »Puppenspieler« nicht, wie es eben den Beschränkungen seines Wesens angemessen wäre, zu entsagen im Stande ist, sich vielmehr dieser Entsagung schämten würde und daher den andern u sich ein falsches Eigenschicksal vorspielt – ist ein Zeichen, dass er innere Reife nicht erlangte, welche eben nur in Selbsterkenntnis bestehen kann. Es ist also nur natürlich, dass bei manchen Menschen, insbesondre bei klugen, von mäßigem Talente und stillem Temperamente das was ihnen an innerer Reife überhaupt beschieden ist, in einer Art von »Entsagung« den entsprechenden Ausdruck findet.
Wohl denen, die’s nicht nöthig haben, – wohl uns, die wir wie mir scheint zu diesen gehören – und hoffentlich nicht allein wegen Mangels an Klugheit. So spricht also nichts dagegen, mein lieber Hermann, dass wir beide uns an die Arbeit machen, die du in meine Hände legst: »Das Werk von der letzten Nacht einer alten Zeit« – Und schließlich können es auch andre Werke sein.
Zu »Mahler« haben wir noch Sitze bekommen, so seh ich dich hoffentlich auch heute Abend.
Jedenfalls aber sage oder schreibe mir pneumatisch, ob du vielleicht Lust hättest, am Samstag bei uns zu nachtmahlen.
Herzlichst der deine
Arthur
Olga grüßt dich herzlich und sagt dir, dass sie von dem was du anläßlich des P. geschrieben hast, erschüttert war.

    in den Cyclus Lebendg Stunden] vgl. Arthur Schnitzler an Hermann Bahr, 18. 10. 1901

    brav genug] Berliner Tageblatt, Jg. 54, Nr. 227, 14. 5. 1925, Abend-Blatt, S. 2: »Arthur Schnitzler unterhält sich mit einem Freund über Leutnants Bilses Schlüsselroman ›Aus einer kleinen Garnison‹, und es entsteht die Frage, inwieweit ein Autor ein Recht habe, wirkliche Vorkommnisse und Namen in ein Werk aufzunehmen, ›Die Frage‹, sagt Schnitzler, ›erinnert mich an eine reizende Episode ans dem Leben des Tenors Streitmann; der war nämlich schon ein berühmter Operettenheld, ohne daß ihn seine auf dem Land lebende Mutter je auf den Brettern gesehen hatte. Eines Tages fährt sie nach Wien, begibt sich – auf dem Zettel steht die ›Fledermaus‹ – ins Theater, wo ihr Sohn auftritt. ›Nun?‹ fragt am Ende der Vorstellung Streitmann seine Mutter, ›wie habe ich dir gefallen?‹ – ›Sehr gut, sehr brav, mein Kind – aber‹, und sie wird bedrückt, ›warum hast du nicht das schöne Lied gesungen: ›Ach, ich hab’ sie ja nur auf die Schulter geküßt?‹ – ›Aber Mama,‹ sagte der Tenor, ›das kommt ja gar nicht in dieser Operette vor.‹ – ›Schön, kommt nicht vor . . . aber warum hast du’s nicht doch gesungen?‹ – ›Aber Mama, verstehst du nicht – ich hätt’ es ja gar nicht singen dürfen.‹ Darauf ein langer, mißtrauischer Blick der Mutter: ›Wenn man brav ist, mein Kind, darf man alles.‹ ›Das ist‹, fügt Schnitzler hinzu, ›auch meine Meinung über den Schlüsselroman.‹«

    schämten] Schreibfehler, das Wort ist deutlich zu entziffern

    Mahler« haben wir noch Sitze] Mahler dirigierte seine 3. Symphonie im Musikvereinssaal.