Hugo von Hofmannsthal an Arthur Schnitzler, 1[9?]. 6. [1904]

R 19 VI.

lieber, ist es nicht schrecklich dass wir in der gleichen Stadt leben und uns jahraus jahrein keine zehn mal sehen!
Wie traurig wären wir, wenn der andere in eine andere Stadt übersiedeln würde und doch, man könnte kaum weniger von einander haben.
Ich möchte nun so gern einmal mit Gerty gleich nach Tisch zu Euch kommen oder schon zu Tisch so dass wir zusammen dann einen Ausflug machen würden nach Eurer Gegend hin, die ich viel zu wenig kenne.
Samstag und Sonntag nicht Papas wegen, aber sonst immer. Bitte bald Antwort, freue mich so sehr auf Sie.
Hugo
P. S.
Ich konnte die ersten paar Tage nach der Rückkehr nicht schreiben, weil ich von der gräßlichen Dummheit die ich mit dem Kraus-brief gemacht hatte, so degoutiert und verstimmt war wie möglich, außerdem hatte ich noch eine andere Dummheit gemacht, ganz anderer Gattung aber auch sehr ärgerlich

    Rückkehr] Am 10. 6. 1904 kehrte er von einer mehrwöchigen Reise in die Niederlande zurück.

    Kraus-brief] Adolph Donath hatte ein Buch für Detlev von Liliencron herausgegeben (Österreichische Dichter zum 60. Geburtstage Detlev von Liliencrons. Hg. Adolph Donath Wien: Konegen 1904). Hofmannsthal hatte – in einem in der Fackel abgedruckten Brief (Hugo von Hofmannsthal: Zur Liliencron-Feier. In: Die Fackel, Jg. 6, H. 142, 19. 5. 1904, S. 24–26) die Schuld, warum er daran nicht mitgearbeitet hatte, Donath gegeben. Dieser veröffentlichte in Folge die eigentliche Absage Hofmannsthals. Aus diesem ging eine Abneigung gegen Liliencron hervor, Hofmannsthal war vor aller Öffentlichkeit als Lügner bloßgestellt.

    andere Dummheit] Eventuell verbirgt sich die Erklärung hinter einer gestrichenen Stelle in den Aufzeichnungen Hofmannsthals (S. 477). Demnach hätte er bei einem Tisch gegenüber einer Frau einen faux pas begangen.