Hugo von Hofmannsthal an Arthur Schnitzler, 15. 3. [1900]



*15 März. 192 Bd Haussmann
Paris

mein lieber Arthur

es geht einem hier merkwürdig: ohne einzelnen Menſchen übermäßig nahe zu treten, iſt man doch von einem ſolchen Gewirr von Menſchen und Beſtrebungen umgeben, daſs einem zuhauſe und Deutſchland ungeheuer weit weg vorkommt. Für mich hat eine ſolche Suggeſtion etwas ſehr gutes: ſchon lang hab ich mich nicht ſo frei gefühlt, mich *nicht ſo zuſammenfaſſen können. Es fällt mir manchmal mehr ein als ich aufſchreiben kann: kleinere und größere Stücke, Erzählungen und anderes Phantaſtiſches. Ich hoffe, daſs ich wol halbwegs Abgeſchloſſenes fertig bringe.
Die Stadt und das bois ſind noch nicht ſehr hübſch; man freut ſich hier doppelt auf das Frühjahr, das Licht und die Blätter.
Anatole France zu ſehen, iſt recht intereſſant; es kommen *viel junge Leute zu ihm, das Geſpräch iſt faſt ausſchließlich politiſch, die Färbung ſocialiſtiſch. (Die »Geſellſchaft« iſt faſt vollſtändig nationaliſtiſch, zum Theil in einer widerwärtigen bornierten Weise).
Eine große Freude iſt es, Rodin in ſeinem Atelier zu beſuchen. Da iſt man in einer ganz andern, ſehr großen Welt. Er ſelbſt iſt von einer merkwürdigen Güte und Freundlichkeit. Ich *werde ihn nächſtens auch nach Meudon zu ihm hinausfahren.
Wie heißt der kleine Ort am Waſſer, wo Sie einen ſo ſchönen und traurigen Abend verbracht haben? Ich denke ſehr oft daran.
Ich beſchäftige mich mit Ihnen in Gedanken in einer ſehr lebhaften ſonderbaren Weiſe. Mir iſt unter andern ein ganz incommenſurables kleines groteſkes Stück eingefallen, in welchem Sie und Paracelsus (der wirkliche, von dem ich ganz *außerordentliche Bücher hier, überſetzt, auszugsweise, mithabe) die Hauptfiguren ſind. Es iſt ein Stoff der mich merkwürdig aufregt. Wenn ich es fertig bringe, müſsten wir es beim Richard ſpielen. Ich ſpüre dabei ſehr ſtark, daſs mir an dem Verkehr mit Ihnen gar nichts unfruchtbar iſt; auch nicht die kleinſte Sache, mit der ſich nicht in der *Erinnerung etwas anfangen ließe.
Was thuen Sie? von dieſen Tagen jetzt gerade kann ich es mir ja denken, beinahe fühlen, aber nachher? woran arbeiten Sie, lieber Arthur?
Iſt Richard in Wien? Ich erwartete auf mehrere Karten lange eine Antwort, erhielt endlich eine ſehr *flüchtige, dürftige aus Florenz.
Mein Papa wird Ihnen in den nächſten Tagen ein typiertes Exemplar des kleinen Vorſpiels ſchicken, das ich für eine Berliner Antigone-vorstellung (26ten März) geſchrieben habe. Bitte ſchicken Sie es mit meinen herzlichen Grüßen an Goldmann. Es wäre mir natürlich angenehm *wenn er etwa in die Vorſtellung gehen und darüber ſchreiben würde, aber natürlich abſolut nur, wenn er Luſt hat.
Ich hoffe bald einen Brief von Ihnen, ſehe Maeterlinck ſehr viel, einen überaus erfreulichen Menſchen, auch andere Leute, Frauen, Cocotten, Schauſpielerinnen, ſehr viele ſchlechte Menſchen, arbeite ſehr viel, finde endlich, daſs der Tag 24 Stunden hat und bin nie ſchläfrig.
Von Herzen Ihr
Hugo.
    Bildrechte © University Library, Cambridge

    Abend] am 21. 5. 1897, zusammen mit Marie Reinhard

    diesen Tagen] Am 18. 3. 1900 jährte sich der Tod Marie Reinhards.