Karl Kraus Wien, am 19. 3. 1893
Sehr verehrter Herr Doctor!
Leider sehe ich mich genöthigt, mich in einer Angelegenheit an Sie zu wenden, mit der Sie gewiss nicht gerne belästigt werden. Aber, da ich Sie, lieber Herr, stets hochgeschätzt und geachtet habe, so will ich
mich auch Ihnen ganz offenbaren. Sie können ermessen, wie sehr es mich kränkten musste, dass Sie mir vorgestern im
Griensteidl, nachdem wir uns 4 Wochen nicht gesehen hatten, mit sichtlicher Kälte und – ich möchte sagen – »ceremonieller« Höflichkeit begegneten.
Und weil es mir nun ganz enorm furchtbar und riesig daran liegt, dass Sie, liebster Herr Dr. Schnitzler, von mir gut denken oder so denken, wie über mich zu denken ist, so will ich Ihnen, damit Sie sich nicht durch nichtige Redereien bestimmen lassen, mir böse zu sein und mich quasi für einen »Aussätzigen« anzusehen, folgende Thatsachen mittheilen:
Meine in N
o 8 des »
Magazin« enthaltene »
Dörmann–Specht«-Recension ist in dieser Form bereits vor Monaten entstanden. Herr
Richard Specht sandte mir im November od. December, (ich weiß nicht genau, wann) seine
Gedichte. Ich schrieb sofort (nach 2–3 Tagen) eine Kritik, diese
Kritik (mit
Dörmann zusammen besprach ich ihn;
F. D. »
Sensationen« sandte mir gerade vorher
L. Weiß zur Recension).
Dörmann kannte ich damals noch nicht; den lernte ich erst später durch Vermittelung D
r. Beer-Hofmann’s persönlich kennen.
Die Kritik gab ich dem »
Tagblatt«.
Alexander Landesberg behielt sie volle 2 Monate bei sich, ohne sich zu entscheiden. Endlich gieng ich hin. Er erklärte, dieser Sache keinen so breiten Raum gewähren zu können. Er suchte sie heraus, fand sie nach langem Suchen und gab sie mir – Nun schickte ich die Arbeit
(Dieselbe!! In dieser Form!!) – auf’s Geratewohl – an’s »
Magazin«. Nach 8 Tagen schrieb mir
Paul Schettler für die Redaction: »Ihre Besprechung der beiden
Wiener ›Neurotiker‹ acceptiert das ›
Magazin‹ mit Vergnügen.«
Als ich nach
Berlin kam, machte man mich auf die bereits erschienene
Kritik aufmerksam. Ich war dem
Tgbl. vom Herzen dankbar, dass es die
Kritik retournierte. Denn durch diese
Kritik, die
Otto Neumann-Hofer und die andern Herren
(auch Baron Liliencron) außerordentlich lobten, schuf ich mir feste Position im »
Magazin«. Die Sache wurde sofort honoriert und weitere Artikel (über
Wiener Litteratur, »Decadence« etc) – sozusagen – »bestellt«.
Ich glaube, es sind schon 4 Monate her, dass mir Herr
Specht sein
Büchlein schickte, circa 4 Monate also seit Abfassung des vor 2–3 Wochen erschienenen
Artikels!! Deshalb ist entstanden lange, lange, bevor ich Herrn
Specht den wirklich mit Müh und Not beschafften »Sündentraum«beleg schickte und da
zu jenen ominösen, aber durch und durch freundlichen Brief schrieb, der den harmlosen Witz (»
Dör-mannbar« enthielt) sie ist entstanden, lange bevor ich Herrn
Dörmann persönlich kennen lernte, so dass also weder von einem persönlichen Gefühle Herrn
Specht gegenüber noch von einer »Beeinflussung durch
Dörmann« die Rede sein kann!
Das beschwöre ich!
Die
Kritik (ganz in der jetzigen Gestalt!!) ist – vor Monaten – aus einer ehrlichen, vollsten, ureigensten Überzeugung heraus entstanden. Nichts liegt mir ferner als Unehrlichkeit, als »Rachegefühl« und jüdisches Tagsschreiberthum. Man hüte sich, mich in dieser niederträchtigen Weise zu verleumden!!
Ich hasse und hasste diese falsche, erlogene »Decadence«, die artig mit sich selbst coquettiert; ich bekämpfe und werde immer bekämpfen: die posierte, krankhafte, onanierte Poesie! Und dieser Hass war das Kritikmotiv!
Sie werden vielleicht, verehrter Herr D
r., sich denken: Aha, wer sich so vertheidigt, muss sich wohl verteidigen!? Nein, seien Sie versichert, die ganze Litanei hab ich auch nur Ihnen
1 hergesagt, weil mir an Ihrer Meinung viel liegt. Den andern gegenüber hab’ ich es Gottsseidank nicht nöthig, mich zu vertheidigen!
Wenn ich Sie belästigt habe, verzeihen Sie.
Otto Erich Hartleben grüßt Sie durch mich.
Für »
Neue litt. Bl«
(Bremen) wäre ich mit
Anatol zu spät gekommen, da das dort in Einläufe
verzeichnete
Buch bereits an einen andern
Mitarbeiter zur
Recension abgegeben wurde.
Sonst stehe ich Ihnen mit aufrichtigem Vergnügen stets zu Diensten u bin (Sie noch um paar Zeilen bittend!) Ihr Sie vollkommen hochachtender
Herzlichst grüssend
Karl Kraus