Hugo von Hofmannsthal an Arthur Schnitzler, [Anfang August] 1891



*Ich danke Ihnen wirklich für Ihren Brief. Sie müſſen ihn ſehr ſchwer geſchrieben haben. Ich habe das damals empfunden und empfinde es jetzt wieder.
Damals – um mich, als ich ihn las, ſtanden Robert und Olga Hirſchfeld, Schwarzkopf und Boris Fan-Junk – berührte er mich wie eine Erinnerung an Längſtvergeſſenes, Unerreichbar-fernes. Sie fragten nach meinen Arbeiten. Sie gedachten gemeinſamer Pläne. Um mich und in mir waren neue Dinge, Gleiten, Plätſchern, Rieſeln, Auflöſung, vages Verſchwimmen. Ich kann nicht arbeiten. Heute ſo wenig als damals. Noch weniger *vielleicht. Ich gleite, ich treibe. Kein Gedanke cryſtalliſiert ſich und es wird kein Vers. Ich kann nicht weiter denken als Stunden.
Aber mir iſt wohl. Anders wohl, neu wohl, wechſelnd wohl. Ich fühle mich wachſen. Wollt ich mich zwingen, müſst ich verzweifelnd, abwartend ſehe ich mir fluthen zu und empfinde ein glückliches Michbeſcheiden, das gute Schweſtergefühl zur Reſignation. Wäre nur mehr Sonne. So aber bin ich verſchnupft und krank möcht ich nicht werden, denn ich kann jetzt das Alleinſein nicht brauchen. Wenn Sie vielleicht in der Kunſtchronik meinem Salzburgerbericht begegnen, ſo laſſen Sie ſich von mir *ein paar Vorworte ſagen. Ich habe dort in 4 Tagen und 2 Nächten die concentrierteſte Menge von Eindrücken zuſammengetrunken, die mein Nervenſyſtem überhaupt vorläufig erträgt. Den Bericht habe ich im vollſtändigen Halbſchlaf geſchrieben in dem ſeltſamen Zuſtand, wo das Gehirn loſe Bilder, Geſprächstheile der letzten Nacht mit ſchmerzender Deutlichkeit bis zum Ekel reproduciert. Wenn der Bericht überhaupt deutſch iſt (ich habe ihn noch nicht bekommen) dann ſchläft in mir ein unbewuſster Reporter, qui parfois se réveille wie Ste. Beuve ſagt. Dr Hoffmann hat mir auf einen 4 Seiten langen Brief nach Wien nicht geantwortet; ich habe ihm nach *Markt-Aussee (??) geſchrieben er ſoll doch zum Teufel hieher kommen. Warum kommt er denn nicht?!!! Ich arbeite garnichts und hoffe daß die Comités der Freien Bühne das Gegentheil thuen.
Während der Eiſenbahnfahrt nach Wien (15 September) ſchreibe ich
1.) die letzte Scene von »Geſtern«
2.) Maurice Barrès, eine Studie
3.) eine psychologische Novelle aus einem 12jährigen Kinderkopf
4.) Conway, der Novellist der Telepathie
5.) das grosse Buch von 1891 in England.
Telle est la vie!
Loris.
    Bildrechte © University Library, Cambridge

    Damals] zwischen dem 22. und 31. 7. 1891, vgl. Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen. Hg. Rudolf Hirsch † und Ellen Ritter † in Zusammenarbeit mit Konrad Heumann und Peter Michael Braunwarth. Frankfurt am Main: S. Fischer 2013, S. 128 (Sämtliche Werke, XXXIX).

    Salzburgerbericht] Loris: Die Mozart-Centenarfeier in Salzburg. In: Allgemeine Kunst-Chronik, Bd. 15, Nr. 16, 1. August-Heft, 1. 8. 1891, S. 423–433.

    begegnen] Nachdem die Mozart-Zentenarfeier vom 14.–17. 7. 1891 in Salzburg stattfand, ist die Datierung von Schnitzler mit »Anf Jul 91« auszuschließen. Wahrscheinlicher antwortet der Brief auf Schnitzlers Schreiben vom 27. 7. 1891. Das Erscheinen des Artikels begrenzt die Datierung nach hinten auf Anfang August.

    qui parfois se réveille] französisch: der gelegentlich erwacht; Zitat in der Gestalt nicht nachweisbar

    Maurice Barrès] Loris: Maurice Barrès. In: Moderne Rundschau, Bd. 4, H. 1, 1. 10. 1891, S. 15–18.

    1891 in England] Loris: Englisches Leben. In: Moderne Rundschau, Bd. 4, H. 5, 1. 12. 1891, S. 174–177.