Rodaun12. VI 912mein lieber Arthurden fünfzehnten MaiSchnitzlers 50. Geburtstag., von Perugia nach Rom fahrend,stundenlangstill neben dem Chauffeur, habe ich mit rechter Herzlichkeit an Sie gedacht
und aus den vielen Jahren unserer Freundschaft ist unzählbar Vieles an mir
vorübergeflogen, Augenblicke die Ihnen wohl entschwundensind und in welchen mir Ihr
Wesen oder wiesoll ich’s nennen: das Gefühl des Lebens, vermittelt durch das Gesicht
eines Menschen, durch einen Blick aus den Augen des andern –sehr nahe kam und die
ich nie verlieren werde,solange ich lebe. Viele Menschensind mirseitdem nahe
gekoen, auch jetzt noch bin ich nicht abgestumpfter,
nicht unempfänglicher für die Annäherung eines Menschen, aber das kann mir wohl nie
wiederkommen, was damals die Verknüpfung mit Ihnen und Richard zuerst mirschenkte. Für mich vor
allem war es ein Augenblick, dessen gleichen
nie wiederkommen konnte. Frühreif und doch unendlich unerfahren trat ich aus der
absoluten Einsamkeit meiner frühen Jugend hervor – da waren Sie für mich nicht nur
ein Mensch, ein Freund,sondern eine neue Verknüpfung mit der Welt, Sie warenselbst
für mich eine ganze Welt – so genug verwandt meiner
eigenen, dass ich alles darin lesen konnte wie einschönes anziehendes Buch, genug
fremd, dass mich alles daran verwunderte, reizte, durch Geheimnis anzog, durchseine
Mischung von Trauer und Fröhlichkeit, von großer Schwere und geistiger Leichtigkeit
bezauberte. Tausende von Begegnungen haben ihr Gewicht in die gleiche Schale getan,
Ihre Büchersind gekoen eins nach dem Anderen – und
alles ist geblieben wie in jenem ersten Jahr. Nie in diesen zwanzig Jahren war es mir
gleichgiltig Ihnen zu begegnen, nie habe ich mit Gleichgiltigkeit die Seiten in einem
Ihrer Bücher umgewandt.
Das große Glück und das unauflösliche Geheimnis, von
einem Wesen, das zur gleichen Zeit lebt, gleichzeitig die rein geistige Einwirkung
des Dichters und die menschliche des Menschen zu erfahren, – hinter jedem geistigen
Product den Menschen zu fühlen, dessen Nähe mehrsagt als die Zeilen enthalten
können, – andererseits das Hin- und Wieder des freundschaftlichen Verkehrs, das dem
Andern Abgeschaute und Abgefühltesogleich in Kunstwerken vergeistigt und erhöht
wiederzufinden – dies ist mir durch Sie widerfahren, und dies verbindet mich mit
Ihnen in einer Weise die mir teuer ist,so teuer dass ich dies nicht in viele Worte
auseinanderlegen könnte noch wollte, weder heute noch an einemspäteren Tag.
Meine Gedanken über dieses Alles waren viel reicher an Umfang und an Tiefe, als ich
es jetzt hier ausdrücken kann, aber eben darum war es mir ganz unmöglich, jaselbst in Gedanken fernliegend, Ihnen in
eben diesen Tagen zuschreiben. Ihrer Natur liegt alles Demonstrativeso fern, dass
Sie dies ohne weiteres verstehen.
Hier her zurückgekommen, vor 5 Tagen, war das Packet von Fischer mit Ihren erzählenden
Schriften das erste, was mir in die Hand kam. Ich blätterte irgend einen Band
auf, las da und dort eine halbe Seite, alles ist mir jaso wohlbekannt, dass ich die
Erzählungen nach vorne und rückwärts im Flug ergänzte und alles berührte mich mit
einer Vertrautheit als wäre es Ihr Gesicht das mir entgegensähe und allesschien mir
auchso unabgeschlossen imschönen Sinn,so nach vorne und rückwärts deutend,so
fragend und in mich hineinschauend, wie ein Gesicht. Dann erstschlug ich das
vorderste Blatt auf, das nun wirklich Ihr Gesicht enthält, woran ich Tausend kleine Züge habesich
bilden,sich vertiefensehen, und das diese Züge auf kleinem Raumso treu und
gefühlvoll wiedergibt, und unversehensstürzten mir Thränen aus den Augen, ein Weinenseltener Art, woran gar nichtsschmerzliches,sondern nur etwas vielverknüpfendes war.
Wie leben Sie, mein lieber Arthur, und wo leben Sie? Seid Ihr hier – wie ich es hoffe
– dann kommt jetzt bald einmal zu uns, laßt dieses eine Mal im Jahr nicht auch aus
unseren Gebräuchen verschwinden –
Ich wäresehr froh über eine Karte oder einen Anruf. Jeder Tag ist uns recht.
Von Herzen IhrHugo.