Vradist bei Holics, 12. Juli 1910Ungarn
Hochverehrter Herr Doktor,ich glaube, es wird, Sie vielleicht interessieren, wenn ich wieder einmal über meine
literarischen Miß- und Erfolge Nachricht gebe. Kraus, mit dem ich übrigens bereitssehrschlechtstehe, weil wir beide, wie
Sie wissen, recht unverträglichsind, hat einmal ein GedichtAlbert Ehrenstein: Wanderers Lied. In: Die
Fackel, Jg. 11, Nr. 296–297, 18. 2. 1910,
S. 36. von mir gebracht, ein anderes akzeptiert, der
honorarfeindliche Berliner »Sturm« zwei minderwertige Skizzen. Im übrigen ein Debacle
auf der ganzen Linie. Die Verlage Reiß, Fleischel, Langen, v. Weber haben meine Sachen ohne weitere Begründung refusiert, Georg Müller ist trotz der Intervention der Herren Alfred Kubin und A. Halbert zu einer höflichen Ablehnung geschritten, der Inselverlag reagierte nach einer Empfehlung durch
Paul ErnstVgl. den Brief Ehrensteins an Paul Ernst vom 16. 5. 1910,
abgedruckt in: A. E.: Briefe, S. 39.ähnlichsauer. An komischen Werturteilen
fehlte es nicht, Soykaschimpfte mich ein Genie, Paul Ernst gab zuerst reichliches Lob vonsich, umschließlich
bei dem Cliché »frühreifes Wiener Talent, das längstens in fünf Jahren abgestorbensein wird« zu enden.
Angesichts Ihrer Ansicht, vieles bei mirsei noch unreif, erinnert mich dieser
Widerspruch lebhaft daran, daß Auernheimer
meine Th. Mann-kritik dithyrambisch nannte,
Polgarsie für ein abscheuliches Pamphlet erklärte, jener
mich als phantastischen Schriftsteller rubrizierte, Großmannsich durch meinen Realismus abgestoßen fühlte. Die
Prognose des Dr Ernstscheint mir jedenfalls
unzutreffend: nach fünfjähriger Stagnationsind mir meine lyrischen Fähigkeiten heuer
wiedergekehrt. Immerhin hat eine Ballade, die ich im Mai fabrizierte, bereits den Rekord von
zwölf Retournierungen. Ich möchtesie mit einigen anderen kleinen Arbeiten Ihnen unterbreiten: Ich halte die Sachen
nämlich nicht fürsoschlecht wie die vereinigten Redaktionsphilister, deren
Autogramme zusammeln mein Schicksal zuseinscheint. Die Herren Hesse, GumppenbergVgl. den Brief Ehrensteins an Hanns von Gumppenberg vom
16. 5. 1910, abgedruckt in: A. E.: Briefe, S. 38., K. B. Heinrich, Scheerbart, Lang-, Wid-, Hoff- und Großmann behaupten einhellig eine intensive
Nichteignung meiner Arbeiten für Ihre respektiven Blätter. Bie verwechselt mich konstant mit R. Auernheimer, Wien III,
und verlangt immer wieder duftige Wiener Ware, die
ich natürlich nicht herstellen kann. Kurz, es dürfte kein namhaftes Organ in Österreich und Deutschland geben, das mich nicht mitseinen nichtssagenden
Ablehnungsformularen beglückt hätte. — Ein Herr König vom »Merker« möchte für den
Spätherbst eine kritische Studie über Sie, den Dramatiker, von mir haben, abersein
Blatt zahltspät undschlecht, und mit meiner Betrachtungsweise wäre wohl eher noch
der Autor als der päpstliche Merkereinverstanden. Ich würde Sie nämlich,
trotzdem Ihre Stücke oftmals von der Bühne her auf michstark gewirkt haben,
ebensowenig einen Dramatiker nennen wie etwa Grillparzer oder irgend einen anderen österreichischen Dichter. Ich würdesagen, Sieseien im Grunde genommen ein
Lyriker, ein Stimmungsdichter, dersich zurseiner Erreichungseiner Zwecke oft des Dialoges,
noch häufiger der epischen Form bedient. »Der einsame
Weg« zum Beispiel ist nichts anderes als eine
wunderschöne, dialogisierte Novelle, in der ebenso wie in den ähnlichen Wahlverwandtschaften (aber auch bei Homer und den Buddenbrooks) ein Aussterben der feiner organisierten Individuen, ein ÜberlebenAmlebenbleiben der gangbareren Typen zu registrieren ist. Jene unerbittliche Logik, jene
unabwendbaren Resultate ineinanderwachsender Motive, zu denen Shakespeare kam, hat von deutschen DichternDramatikern nicht einmal Kleist; Hebbel und Schillersind Dialektiker, Goethe ist – ich weiß kein höheres Lob für
Ihren musikalischen,stets melodischen Stil – Lyriker. Diejenigen Ihrer Werke, die
auf den Einfall und Einfälle gestelltsind, wie die meisten Ihrer Einakter und
Dialoge, wüßte ich nicht zu besprechen. Mit Mathematik befasse ich mich nicht gern,
und wenn,so würde ich den »Reigen« als
Vertreter hinstellen und beklopfen. Behaupten, es gebräche der Composition an
Vollständigkeit,sei manschon Algebraiker genug, die Prinzipien der Combination und
Permutation anzuwenden, hätte der Cirkus komplettsein müssen, die Dörfer Sodom und
Gomorrha nicht außer Betracht bleiben dürfen.
Über die Vollkommenheit wieder, repräsentiert durch den »einsamen Weg«, »großen
Wurstel« und »Schleier der Beatrice«
(dessen Helden übrigens der unlogischere,sentimentalereAltenberg nicht zum Selbstmord hättenschreiten
lassen, bloß weil die Vertreterin der der Weiblichkeit von einem anderen Mann träumte) –
über das Vollendete läßtsich wenigsagen. Vor allem aber gebricht es mir an
Material, ich kenne nicht jenen Schauspielereinakter, der in Berlin zu
einem SkandalDas Haus Delorme wurde kurz vor der Premiere
im März 1904 zurückgezogen, wobei Schnitzler selbst als Grund nannte, die Schauspieler hätten ihr eigenes
Milieu nicht darstellen mögen (Briefe I,488–489). führte, und was mich
noch mehr interessierte: ich kenne bis auf das Bruchstück in einem WidmungsbucheArthur Schnitzler: Liebelei. Erstes Bild. In: Widmungen zur Feier des siebzigsten Geburtstages Ferdinand von Saar’s. Hg. Richard Specht. Buchschmuck A. F. Seligmann. Wien: Wiener Verlag 1903, S. 175–196. die erste
Fassung der »Liebelei« nicht, die mir in dieser
Form, nach dem Fragment beurteilt, viel höheren Wert zu besitzenscheint. (Dieselbe
legere Technik fand ich in den in der »N. Fr. Presse« veröffentlichten SzenenArthur Schnitzler: Bastei-Szene. Erste Szene des dritten Aufzuges aus der
dramatischen Historie: »Der junge Medardus. In: Neue Freie Presse, Nr. 16378,
27. 3. 1910, S. 32–39. aus dem »Medardus« wieder, die andererseits wieder eine
gewisse und vielleicht lustige Ähnlichkeit mit dem »Kakadu« besitzen.) Summa summarum möchte ichsehr
gern ein Essay über Sieschreiben (schon weil ich Ihnen womöglich jedes Gefallen an
der vorliegenden Form des »Wegs ins Freie«
benehmen will), aber wederscheint mir der »Merker« das geeignete Blatt, noch könnte
ich ohne einiges biographische und entwicklungsgeschichtliche Materialsoschnell
etwa Ihrer und meiner Würdiges zu Tage befördern. Wenigstens kaum vor März
1911, denn meine Studien machen nur langsame Fortschritte. Zwarsind die
geographisch-historischen Arbeiten bereits approbiert, das kleine philosophische
Rigorosum bereits hinter mir undsosteht zu befürchten, daß ich im
Oktober zum Dr. phil. degradiert werde. Aber ich fürchte,besorge nicht über genügendstarke Protektion zu verfügen, um ins Ministerium des Unterrichts oder Inneren kommen zu können und es müßte also im
Jännerschreckliche, überdies nicht gerade viel Chancen
bietende Lehramtsprüfungen ablegen
Ihr Hochachtungsvoll und ergebenst grüßender
Albert Ehrenstein.